Bernhart Jähnig / Klaus Militzer (Hgg.): Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 12), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, XIV + 426 S., ISBN 978-3-8258-8066-8, EUR 29,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Jobst Knigge: Kontinuität deutscher Kriegsziele im Baltikum. Deutsche Baltikum-Politik 1918/19 und das Kontinuitätsproblem, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003
Kevin O'Connor: The History of the Baltic States, Westport, CT / London: Greenwood Press 2003
Bernhart Jähnig (Hg.): Literatur im Preußenland von der ausgehenden Ordenszeit bis ins 20. Jahrhundert, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Klaus Militzer: Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart: W. Kohlhammer 2005
Klaus Militzer (Hg.): Stadtkölnische Reiserechnungen des Mittelalters, Köln: Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 2007
Kurz vor seinem Tod im Juni 2005 erhielt Heinz von zur Mühlen diesen umfangreichen Band zu seinem 90. Geburtstag überreicht. Damit wurde einer der aktivsten Historiker der Baltischen Historischen Kommission geehrt, der wie kein anderer bis ins hohe Alter vor allem auf dem Gebiet der baltischen Mediävistik gearbeitet hat. Trotz des Titels sind freilich nicht alle dem Jubilar zugedachten Texte des Bandes auf die Zeit Alt-Livlands beschränkt, doch tut das dem inhaltlich positiven Gesamteindruck, den diese Festschrift hinterlässt, keinen Abbruch.
Neben einem Grußwort von Gert v. Pistohlkors versammelt dieser Band 18 Beiträge von sechs estnischen und elf deutschen Historikerinnen und Historikern; mit dem einzigen lettischen Beitrag ist Ilgvars Misāns aus Riga vertreten, der hier Gelegenheit findet, anhand der Geschichte von Wolmar/Valmiera über die allmählich nachlassende Rolle der Kleinstädte im hansischen Gefüge Livlands nachzudenken (39-54). Schließlich blieb Wolmar nur, den Rahmen für die "große Politik" abzugeben, die für die livländischen Land- und Städtetage oft hierher fand, nicht zuletzt auf Grund der geografischen Nähe des Ordenszentrums Wenden/Cēsis. Mit im weitesten Sinne livländisch-rigischer Geschichte beschäftigt sich auch Klaus Militzer, dessen Beitrag der dominanten Stellung Kölns für den Import von Rheinwein in Riga gewidmet ist (101-111). Bistum und Stadt Riga sowie der stets schwelende Streit zwischen geistlicher und weltlicher Macht im 15. Jahrhundert kommen bei Bernhart Jähnig zur Sprache, der die "Rigische Sache des Deutschen Ordens zur Zeit des Erzbischofs Henning Scharpenberg bis zur Landeseinung von 1435" behandelt (113-135), sowie bei Thomas Brück, dessen Beitrag das Wirken des Kaufmanns und Rigaer Bürgermeister Johann Schöning zum Gegenstand hat, der 1469 in Riga erstmals aktenkundig wird (137-168). In diesem Zusammenhang sind auch der sehr kompakte Artikel von Stefan Hartmann über die livländische Koadjutorfehde 1555/56 (275-306) und der der lateinischen Memoria Erzbischof Johannes Blankenfelds gewidmete Beitrag von Lore Poelchau (259-273) zu nennen. Außerdem berichtet Klaus Neitmann auf 52 Seiten, aber nach eigener Einschätzung dennoch "nicht erschöpfend" über den Quellenwert der von ihm betreuten Edition der "Livländischen Güterurkunden" aus der Spätzeit des Ordens (185-237).
So sehr diese Beiträge unsere Kenntnisse auch im Einzelnen vertiefen mögen, behandeln sie doch alle das klassische Thema von 'deutscher Macht und deutschem Handel' in Livland. Eine andere Perspektive wählt Norbert Angermann in seinem gelungenen Beitrag zu einem vernachlässigten Thema in der Geschichtsforschung: der russischen Herrschaft im östlichen und mittleren Livland in den Jahren 1645-1667 (351-367). Unter Heranziehung der abgelegensten Quellen russischer, weißrussischer und lettischer Provenienz gelingt ihm auf knappem Raum ein mustergültiger Aufsatz, der die Besatzungszeit aus der Sicht der Okkupanten seziert. Angesprochen werden die Komplexe 'Verwaltung' (durch den Voevoden A.L. Ordin-Naščokin), 'militärische Repräsentation', 'politische Intention' und die Errichtung von symbolischer Herrschaft der jungen Romanov-Dynastie durch Namensänderungen und Kirchenbau.
Kommen wir nun zu den Beiträgen estnischer Historiker und Historikerinnen. Enn Tarvel nutzt die kürzlich in Reval/Tallinn wieder aufgeflammte Diskussion, ob die kryptische Karte des Idrisi aus dem Jahre 1154 nicht doch als Geburtsurkunde der Heimatstadt Heinz von zur Mühlens dienen könne, für eine überfällige Widerlegung dieser auf allzu vielen Spekulationen aufbauenden These. Immerhin wurde sie einst von der Estnischen KP übernommen, um Reval vor der "Kriecherei vor dem Westen" zu bewahren, die in der Festsetzung des Gründungsdatums 1219 läge (1-9). Tallinn feierte somit 2004 keinen 850. Geburtstag - vielleicht ein Beleg für die reinigende Wirkung historischer Forschung? Der Tartuer Mediävist Anti Selart geht dem mysteriösen "Dorpater Zins" nach, der als Auslöser für den Livländischen Krieg herhalten musste, und kommt nach eingehender Untersuchung zahlreicher Quellen zu dem durchaus nachvollziehbaren Schluss, dass "die sich im Laufe der Zeit veränderte [sic!] Semantik der Quellenterminologie potentiell schicksalsschwere Missverständnisse verursachen konnte" (11-37, Zitat 37). Sulev Vahtre beschäftigt sich mit den Quellen, die vom Aufstand der Esten in der Georgsnacht des Jahres 1343 berichten (55-69). Kein einziger der Berichte, die wir besitzen, ist zeitgenössisch, und alle längeren Texte, deren Unterschiede der Autor herausarbeitet, repräsentieren die Ordensperspektive. Während die "Jüngere Reimchronik" die livländische Sicht repräsentiere, biete die Chronik Wiegands von Marburg den preußischen Blick. Einen Ordensgebietiger, Paul von Steinen, der 1523 Revaler Komtur wurde, behandelt Juhan Kreem (239-257). Anhand verschiedener Briefwechsel gelingt es dem Autor, Steinens Tätigkeit v. a. in seiner Zeit als Vogt von Wesenberg zu beleuchten; über seine Zeit in Reval während der Reformation lägen hingegen erstaunlicherweise kaum Informationen vor.
Mit zwei weiteren estnischen Städten setzen sich Inna Põltsam und Enn Küng auseinander: Pernau/Pärnu und Narva. Nach sorgfältiger Auswertung aller bislang verfügbaren Quellen über die Einwohnerzahl Narvas in der Mitte des 17. Jahrhunderts kommt Küng zu dem Schluss (329-349), dass die Stadt inklusive des 1645/46 angeschlossenen Ivangorod, aber ohne die Familienmitglieder der Festungsgarnisonen am Vorabend des 1656 ausgebrochenen russisch-schwedischen Kriegs mindestens 4300 Einwohner gehabt haben dürfte. Põltsam beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Stellung der Frauen in Neu-Pernau in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (307-327), wobei sich gerade in Bezug auf die ehelichen Beziehungen viele Ähnlichkeiten mit der Lage der Frauen etwa in Hamburg ergaben. Wie nicht anders zu erwarten, hing auch in der estnischen Kleinstadt die Situation von Frauen in erster Linie von ihrer Vermögenslage und ihren Beziehungen ab. Letztere schlossen aber ebenso nichteheliche geschlechtliche Beziehungen etwa mit Ordensrepräsentanten ein, die Põltsam mit Lust am Detail präsentiert und die offenbar von der Gesellschaft Pernaus durchaus geduldet wurden.
Drei weitere Beiträge sind Reval gewidmet. Dieter Heckmann stellt das Schoßverzeichnis des Revaler Kirchspiels St. Olai von 1402 vor (71-100), und Csaba János Kenéz führt in das Bürgerbuch Revals in der Statthalterzeit (1786-1796) ein (369-381). Otto-Heinrich Elias schließlich gibt anhand verschiedener Quellengattungen (Prozessakten, Nachlassverzeichnisse) aus dem Tallinner Stadtarchiv einen Einblick in die "Anfänge estnischer Bürgerlichkeit" um 1800 (383-423). Tatsächlich waren in einigen wohlhabenden Häusern von Fuhrleuten oder auch Krügern Accessoires bürgerlichen Lebensstils zu finden - spezielle Kleidung, Haushaltsgegenstände, Bilder -, die, so steht zu vermuten, aus Statusgründen von den Deutschen "abgeschaut" worden waren. Dem interessanten Hinweis auf ein estnisch-schwedisches "Dandytum" zu Beginn des 19. Jahrhunderts sollte einmal ausführlich nachgegangen werden.
Last but not least beschäftigt sich Wilhelm Lenz mit einem "besonderen Begriff der baltischen Geschichte": "undeutsch" (167-184). Lenz ist der Verwendung dieses Wortes systematisch nachgegangen und konnte feststellen, dass die eindeutige Eingrenzung auf Esten und Letten sich erst spät abzeichnete und der Begriff zuvor durchaus auch in seiner ursprünglichen Bedeutung auftrat und alles, was nicht deutsch war, bezeichnete. Daneben sind häufig auch Zusammenstellungen wie "Esten und Undeutsche" anzutreffen, sodass hier die Esten aus dem Begriff ausgeschlossen werden. Insgesamt bestätigt Lenz die auch durch von zur Mühlen vertretene Annahme, dass der Begriff ursprünglich wertneutral gewesen sei, aber gerade in der deutschbaltischen Literatur des 19. Jahrhunderts allmählich ein Bedeutungswandel stattfand.
Insgesamt bietet dieser Band für den Spezialisten eine Reihe von interessanten Beiträgen, vornehmlich zu Personen und Quellen Rigaer und Revaler Geschichte. Festschriften sind ihrer Natur nach zwar keine Referenzwerke. Dieses Exemplar hingegen darf bei der weiteren Erforschung baltischer Frühzeit nicht übergangen werden. Dass es äußerlich allerdings derart unprofessionell daherkommt, von Druck- und Grammatikfehlern nur so strotzt und dass die nicht von deutschen Muttersprachlern verfassten Texte redaktionell so stiefmütterlich behandelt wurden - vom nur mäßig vereinheitlichten Anmerkungsapparat und dem zum Teil nicht stimmigen Layout ganz zu schweigen -, stimmt jedoch einfach nur traurig.
Karsten Brüggemann