Werner E. Gerabek / Bernhard D. Haage / Gundolf Keil / Wolfgang Wegner (Hgg.): Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin: De Gruyter 2005, XIX + 1544 S., ISBN 978-3-11-015714-7, EUR 148,00
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Ein "monumentum aere perennius" (Horaz carm. 3,30) oder ein "ktema eis aei" (Thukydides 1,22) schaffen zu wollen ist eine große, anspruchsvolle und ehrgeizige Aufgabe. Der Titel "Enzyklopädie Medizingeschichte" suggeriert einen umfassenden Anspruch dieser Art. Es sei vorweggenommen, dass die Einlösung dieses Anspruchs eine wirklich große Herausforderung bedeutet, handelt es sich hier doch um das erste deutschsprachige Lexikon zur Medizingeschichte, das diachron und in einem Band angelegt ist. Zwei weitere Nachschlagewerke aus dem Bereich der Medizingeschichte, die im selben Jahr 2005 erschienen sind, wählen den bescheideneren Begriff "Lexikon", und in ihnen wird jeweils nur auf einen Schwerpunkt fokussiert - einmal auf die "Antike Medizin" [1] und ein andermal auf das Verhältnis von "Literatur und Medizin" [2]. Der gewählte Titel setzt also hohe Ansprüche: Wie nun löst der gewichtige Band, der durch seine Fülle recht unhandlich und deshalb schwierig benutzbar geworden ist - und der zudem einen stolzen Preis hat - enzyklopädischen Charakter ein?
Die Herausgeber bezeichnen ihr Werk als ein Handbuch (V), das "einem Desiderat aller wissenschafts- und kulturhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum nachzukommen" (V) versucht, indem auf 1544 Seiten (sic! - nicht Spalten) in über 2600 Artikeln "von den frühen Hochkulturen bis in die heutige Zeit [...] aus allen Epochen und Kulturen mit dem Abendland als Schwerpunkt [...] weiteste Bereiche der Medizin und der Zahnheilkunde" (V) abgedeckt werden. In das Projekt sind 212 Autorinnen und Autoren einbezogen, deren Namen und Wirkungsorte tabellarisch zusammengestellt sind (VII-XI). Diese Übersicht ist bereits historisches Dokument, da zahlreiche Wirkungsorte nicht mehr den Tatsachen entsprechen und häufig die angeführten akademischen Titel, will man diese denn überhaupt zitieren, nicht mehr korrekt sind. Man vermutet schon aus diesem Eindruck heraus, dass die "Enzyklopädie" eine lange Entstehungsgeschichte hat - liest man hierzu auch im Vorwort: "[...] ahnten sie noch nicht, wie viele Jahre entbehrungsreicher Arbeit an diesem Projekt vor ihnen lagen" (V).
In der Tat hat die "Enzyklopädie" dort den Charakter eines Handbuchs, wo für einzelne Teilgebiete Übersichtsartikel angefertigt wurden. Es sind dies immerhin "etwa 100" (V). So findet man "Ägyptische Medizin" (8-14), aber zumindest auf den ersten Blick keine "Antike Medizin"; doch auf den zweiten Blick findet man einen solchen Artikel unter "Medizin", genauer unter "Medizin in der griechischen und römischen Antike" (914-920) - und dann noch unter "W" den Eintrag "Westgriechische Medizin" (1476-1482) und anderen Ortes, wie zum Beispiel unter "B" die Byzantinische Medizin (224-226). Diese Einteilung scheint wenig gelungen und hätte zumindest eines besseren Verweissystems bedurft. Man findet keinen Eintrag "Literatur und Medizin" und auch nicht umgekehrt einen zu "Medizin und Literatur", vielmehr sind mehrere Beiträge unter dem Stichwort "Medizin und Dichtung" (920-938) subsumiert; warum hier der Terminus "Dichtung" gewählt wurde, bleibt unklar. Man könnte nun vermuten, dass sich ein Artikel zum Verhältnis von Medizin und Kunst unter "M" findet; doch das einschlägige Lemma findet sich unter "B", und zwar unter "Bildende Kunst und Medizin" (177-178). Man könnte diese Reihe fortführen. Sind die einzelnen Übersichtsartikel durchaus gut gearbeitet, eine erste Schwierigkeit besteht darin, diese überhaupt zu finden, mag man nicht die ganzen über 1500 Seiten durchsehen. Spätestens ein gutes Lektorat hätte hier eingreifen und den Leserinnen und Lesern Struktur an die Hand geben müssen. Es wäre sicherlich ergiebig gewesen, diese Übersichtsartikel konzentriert für sich zu publizieren und sich so dem Stil eines Handbuchs anzunähern.
Daneben sind über 2600 weitere Artikel versammelt, in denen sich einzelnen Autorinnen und Autoren (es sind allein knapp 1900 Biografien) und Werken respektive Phänomenen und Themen (etwa 900) gewidmet wird; weiterführende Sekundärliteratur schließt jeden Beitrag ab. Die zitierte Literatur ist nicht immer auf dem neuesten Stand; auch die ältere Literatur ist nicht stets angemessen zitiert, so fehlt zum Beispiel beim Lemma "Allergie" (40-41) der Hinweis auf Hans Schadewaldts vierbändige Geschichte der Allergie. [3] Mag manches auch dem langen Prozess der Arbeit an dieser "Enzyklopädie" geschuldet sein, so hätte doch ein Endlektorat darauf Acht geben sollen. Zugleich wäre es sinnvoll gewesen, auch hier stärker zu differenzieren und für sich konzentriert zu publizieren. So hätte aus einer "Enzyklopädie" ein Band mit Übersichtsartikeln (handbuchartig), ein Band mit Personen- und einer mit Sacheinträgen werden können. Eine solche Aufteilung hätte der Orientierung, der Handhabung und nicht zuletzt dem inhaltlichen Verständnis gut getan.
Sieht man sich diese über 2600 Artikel näher an, so entdeckt man in der Tat eine wahre Fundgrube von Daten und Fakten. Es fällt einem ein deutlicher Schwerpunkt im Mittelalter auf, der sicherlich daher rührt, dass die Enzyklopädie ursprünglich aus dem Würzburger Institut für Geschichte der Medizin kommt, das, solange Gundolf Keil ihm vorstand, für seinen Mittelalter-Schwerpunkt bekannt war. Man könnte allerdings zugleich kritisch fragen, ob ein solcher deutlicher Schwerpunkt der Bedeutung des Mittelalters für die abendländische Medizin gerecht wird. Hinzu kommt, dass im Vorwort der Anspruch erhoben wird, eine Darstellung bis auf heute vorzulegen; jedoch fällt gerade die Zeitgeschichte der Medizin denkbar dünn aus, wo es hier doch so viel zu berichten gäbe - und nicht nur dann, wenn man die jüngere medizinethische Diskussion als Zeitgeschichte der Medizin versteht.
Man wird vergeblich einen Artikel zur "Geschlechterdifferenz" oder zur "Homosexualität" suchen. Dafür liest man im Lemma "Geschlechtskrankheiten" (482-483): "Eine gesunde Frau, die von einem aussätzigen Mann begattet wurde, bewahrte dessen Krankheitsmaterie in der Gebärmutter auf und gab sie, ohne selbst zu erkranken, als infizierenden Schadstoff an nachfolgende Geschlechtspartner (oder ans eigene Kind) weiter" (482). Die Feststellung, dass eine Frau "begattet wurde" klingt nicht nur antiquiert (tatsächlich steht diese Wendung im Artikel auch im Kontext des Mittelalters), sondern scheint mir eher für Tiere als für Menschen gebräuchlich. Überhaupt scheint die Auswahl der Lemmata trotz der hohen Anzahl lückenhaft, so findet man beispielsweise keinen Artikel zu Alter, Behinderung, Symptom, Sexualität oder Suizid etc.
Auch wird man bei den zahlreichen Personenartikeln nicht immer fündig, so vermisst man zum Beispiel einen Eintrag zu Johannes Heinrich Schultz, dem Begründer des autogenen Trainings, der in der NS-Diktatur eine prominente Rolle in der Medizin einnahm. Aber auch Aaron Antonowsky, der für die Salutogenese große Bedeutung hat, fehlt ebenso wie zahlreiche namhafte Frauen wie Anna Freud oder Hope Bridges Adams Lehmann oder Nervenärzte wie Karl Jaspers, Heinrich Laehr oder Paul Julius Möbius. Dafür finden sich zahlreiche - sicherlich für sich interessante - Personeneinträge, deren große Bedeutung für die Medizingeschichte kritisch zu diskutieren wäre. Hinzu kommt, dass gerade bei den Personeneinträgen der Eindruck entsteht, als wäre für eine gehäufte Zahl an Lemmata eine Auftragsarbeit vergeben worden, die mir nicht immer gut gelungen scheint. Konnte tatsächlich für Lemmata wie zum Beispiel Thomas Bartholin, Gregor Mendel oder Philippe Pinel kein(e) wissenschaftlich ausgewiesene(r) Autorin / Autor gewonnen werden?
Den Herausgebern ist grundsätzlich zu gratulieren, dass sie diese Arbeit auf sich genommen haben und dass sie über 200 Autorinnen und Autoren für ihr Projekt gewinnen konnten. Ihnen gemeinsam ist es gelungen, das erste deutschsprachige diachrone Überblickswerk zur Medizingeschichte im Stil eines Lexikons zu präsentieren. Es bietet eine Fülle an Informationen, aus denen man schöpfen kann und an die anzuschließen ist. Im Vorwort heißt es: "Wie jede Pionierleistung wird auch unsere ausbaufähig sein. Anregungen für die nächste Auflage sind immer willkommen." Ja, in der Tat handelt es sich bei der "Enzyklopädie" im deutschsprachigen Schrifttum um eine Pionierleistung, und diese Arbeit gilt es auch zu würdigen. Dennoch - oder vielleicht auch gerade deshalb - bleiben kritische Anmerkungen, die als Anregungen, vielleicht für eine weitere Auflage, verstanden sein möchten.
Anmerkungen:
[1] Karl-Heinz Leven (Hg.): Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005; vgl. hierzu meine Rezension, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/04/7957.html.
[2] Bettina von Jagow / Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005.
[3] Hans Schadewaldt: Geschichte der Allergie, 4 Bde., München-Deisenhofen 1979-1983.
Florian Steger