Neville Morley: Theories, Models and Concepts in Ancient History (= Approaching the Ancient World), London / New York: Routledge 2004, viii + 162 S., ISBN 978-0-415-24877-8, GBP 15,99
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Nach Bänden verschiedener Autoren etwa zur Epigrafik, Papyriologie oder Numismatik legt Neville Morley in der Routledge-Reihe "Approaching the Ancient World" ein Buch vor, das sich im Unterschied zu den anderen Titeln mit nicht spezifisch altertumswissenschaftlichen Methodikfragen beschäftigt. Stattdessen widmet er sich den möglichen Anwendungen von generell in den Geisteswissenschaften diskutierten Theorieansätzen im Bereich der Alten Geschichte. Seine Einführung gliedert sich nach einem einleitenden Abschnitt ("Approaches: the problem of theory", 1-31) in fünf Kapitel zu den Bereichen "economy, society, culture, mentality" und einen Epilog.
Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet Morleys Feststellung, dass Stellenwert und Nutzen von "Theorie" nach wie vor umstritten sei und von der Mehrheit der (Alt-)Historiker mit Skepsis betrachtet werde, während sich die wenigen theorieinteressierten Fachvertreter häufig in erbitterte Grabenkämpfe verwickelten. Morleys Anliegen ist es nun zu zeigen, dass und wie letztlich jeder Form von Historiografie theoretische Annahmen, die er als "set of ideas and assumptions that inform and govern historians' practices" fasst (3), zu Grunde liegen. Indem man theoretische Diskussionen verweigere, werde die Alte Geschichte nicht zu einer theoriefreien Disziplin, sondern zu einer, deren theoretische Prämissen nicht explizit seien.
Vor der Einführung in die einzelnen Themenbereiche nutzt Morley den verbleibenden Teil der Einleitung dazu, drei aus seiner Sicht wesentliche Punkte zu verdeutlichen. Erstens unterstreicht er den Anspruch einer theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft, tiefere Einsichten zu erzielen als eine faktenzentrierte, indem sie nicht nach dem jeweils Besonderen, sondern nach übergeordneten "patterns, trends, rules and laws, underlying structures and essential features" (9) frage. Zweitens führt er eine Unterscheidung zwischen Theorien mit Anspruch auf weitreichendes Erklärungspotenzial ein und solchen, die von vorneherein den Modellcharakter ihrer Erklärungen betonen. Drittens weist er auf die besondere Rolle von Fachsprachen hin.
Zu Beginn seiner Ausführungen zur antiken Wirtschaft(-sgeschichte, 33-50) geht es darum, die Unterschiede zwischen antiken und modernen Auffassungen von "Wirtschaft" hervorzuheben. Da es keine antike Wirtschaftstheorie im eigentlichen Sinne gebe, sei es gerade in diesem Bereich der Alten Geschichte entscheidend, welchen ökonomischen Ansatz der eigenen Zeit Historiker zur Interpretation der antiken Quellen nutzen wollten. Folglich entscheidet sich Morley für einen wissenschaftsgeschichtlichen Durchgang der modernen Sichtweisen auf die antike Wirtschaft. Seinen Ausgang nimmt er bei A. Smith und setzt fort mit der Bücher-Meyer-Kontroverse. Über das Revival der Weber'schen Argumente gegen eine modernistische Sicht auf die antike Wirtschaft insbesondere durch Finley führt er in die Interpretation ein, nach der antike Wirtschaft nicht einfach "anders" gewesen sei, sondern vielmehr keinen ausdifferenzierten Bereich menschlicher Vergesellschaftung dargestellt habe. Eine sehr knappe Skizze aktuell diskutierter und offener Fragen beschließt das Kapitel; hier hätte eine größere Ausführlichkeit dem Band durchaus gut getan.
Auch das dritte Kapitel ("limits of the possible", 51-69) befasst sich zunächst mit sozioökonomischen Zugangsweisen zu antiken Gesellschaften und nimmt seinen Anfang in der Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus. Der Abschnitt setzt sich fort mit einer Präsentation der "longue durée" Braudels. Von Braudels weitumspannender Vision einer "histoire totale" bleibt freilich in Morleys Präsentation vor allem eine erhöhte Aufmerksamkeit für geografische und klimatische Bedingtheiten antiken Lebens. Nach der geografischen folgt die biologische Sicht auf Geschichte in Form der historischen Demografie und der Ernährungsgeschichte der Antike sowie den gängigen Einwänden gegen die Verwendung von Vergleichsmaterial aus besser dokumentierten Epochen und Räumen. Der abschließende Teil ist der Umweltgeschichte vorbehalten.
Im nächsten Kapitel (71-87) widmet sich Morley den Bereichen soziale Schichtung und Gesellschaft, beginnend mit einer klärenden und überaus nützlichen Unterscheidung zwischen verschiedenen (antiken und modernen) Gesellschaftsbegriffen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es auch bei Verwendung der antiken Terminologie keine Alternative dazu gibt, immer auch auf moderne Konzeptionen von Gesellschaftsbeschreibungen zurückzugreifen. Folglich sind es die beiden modernen, auf Weber und Marx verweisenden Begriffe "Stand" ("status") und "Klasse" ("class"), die Morley als "key terms" moderner Beschreibungen antiker Gesellschaften privilegiert. Beider weitreichende Bedeutung, aber auch Probleme für unsere Sicht auf die Antike werden kurz vorgeführt, wobei Morleys Sympathien erkennbar auf Seiten Webers liegen.
Das fünfte Kapitel stellt unterschiedliche Ausprägungen von Identitäten und Identitätszuschreibungen in den Mittelpunkt, namentlich "sex", "gender" und "ethnicity". Morley plädiert dabei hinsichtlich der Bedeutung der geschlechterorientierten Geschichtswissenschaft deutlich für eine Etablierung der Unterscheidung Mann-Frau als grundlegender struktureller Kategorie jeder Gesellschaft(-sbeschreibung) (91). Im Unterschied zum Rest des Buches weist Morley an dieser Stelle auch auf wissenschaftspolitische Aspekte hin, indem er die Benachteiligung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb zum Thema macht (93). Die Präsentation der theoretischen Einsichten in die Konstruktivität von Werturteilen über Sexualpraktiken verknüpft Morley mit Ausführungen über den konstruktivistischen Charakter der Kategorien "männlich-weiblich" überhaupt. Morley unternimmt es an dieser Stelle besonders eindringlich zu zeigen, wie eine scheinbar auf "unbestreitbare", körperliche Merkmale verweisende Unterscheidung gleichwohl in den Kontext einer kulturalistischen Interpretation gehört. Auch bei der Frage nach der Identitätsbeschreibung von Gruppen zeichnet er den Wandel von "biologistischen" zu "kulturalistischen" Konzepten anhand des Begriffswechsels von "Rasse" zu "Ethnizität" nach. Hier geht er der Frage nach, inwieweit die aktuelle Bevorzugung von konstruierter und konstruierbarer Ethnizität gegenüber abstammungsorientierten Gruppenzuschreibungen sich nicht nur in der wissenschaftlichen Theoriedebatte, sondern gerade im politischen Gegenwartsdiskurs identifizieren lässt. So gelingt es ihm anschaulich zu zeigen, in welchem Maße und worin die aktuellen wissenschaftlichen Konzepte mit nicht genuin fachspezifischen Gesichtspunkten verwoben sind.
Ähnlich wie zur "Gesellschaft" beginnt Morley sein sechstes Kapitel, "Myth and Reason", mit einer Präsentation verschiedener Kulturbegriffe. Der Autor präsentiert eine Vielzahl von "theories of culture", worunter er "all different aspects of how Greeks and Romans thought" verstanden wissen will (106). Der Erste behandelte "kulturelle" Ansatz ist die Freudianische Psychoanalyse, bei der Morley im Unterschied zu seinem sonstigen Vorgehen von Beginn an die Kritiker zu Wort kommen lässt. Erst dann bringt er den theoretischen Ansatz selbst und mögliche Anwendungen für die Antike ausführlicher zur Sprache, ohne freilich seine Skepsis zu verhehlen. Der Folgende, vielleicht etwas überraschend unter den Kulturtheorien verhandelte Ansatz, ist derjenige der Soziobiologie ("The human animal"). R. Dawkins und E. O. Wilson werden hierfür, auch anhand von althistorischen Beispielen aus der Familiengeschichte, als Gegenposition einer psychoanalytischen Geschichtsbetrachtung präsentiert. Erneut bemüht sich Morley im Anschluss an M. Sahlins eindringlich, gegenüber deterministischen Interpretationen der menschlichen Kultur als Ausfluss "biologischer Imperative" (115) auf Schwachstellen hinzuweisen und das beschränkte Erklärungspotenzial dieses Ansatzes hervorzuheben. Beginnend beim wissenschaftsgeschichtlichen Ausgangpunkt Linguistik präsentiert Morley als vorletzten Punkt den Strukturalismus insbesondere französischer Ausprägung, neben Lévi-Strauss werden J.-P. Vernants Mytheninterpretation und die "mentalités" der Annales skizziert. Den Schlusspunkt setzt C. Geertz' "thick description", für Morley eine eher theorieferne "anti-method" (129).
Der erste Satz des Nachwortes fasst das Ziel des Bandes wie folgt zusammen: "one of the aims of this book was to serve as a sort of a guidebook to the world of theory [...], pointing out some of the most prominent landmarks as an aid to navigation." Dieses auf gerade einmal guten 130 Seiten in einem sehr lesbaren Text zu leisten, macht diese Einführung in jedem Fall empfehlenswert. Die Lektüre verschafft Leserinnen und Lesern einen Überblick über eine große Vielfalt von theoretischen Konzepten, ohne hierfür bereits Vertrautheit mit diesem Terrain vorauszusetzen. Morley gelingt es ferner, die erörterten Autoren ausführlich in sinnvoll gewählten Zitaten zu Wort kommen zu lassen. Ob er Skeptiker von der höheren Leistungsfähigkeit oder gar Alternativlosigkeit theoriegeleiteter Geschichtswissenschaft zu überzeugen vermag, steht auf einem anderen Blatt. Doch ist es ihm - über die Erstellung einer "Landkarte" hinaus - gelungen zu vermitteln, dass Theorien auch und gerade dienlich sind, immer wieder neue Fragen an alte und schon viel behandelte Quellen zu stellen.
Fabian Goldbeck