Martin Jehne: Der große Trend, der kleine Sachzwang und das handelnde Individuum. Caesars Entscheidungen (= dtv premium), München: dtv 2009, 160 S., ISBN 978-3-423-24711-5, EUR 14,90
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Martin Jehnes jüngste monographische Beschäftigung mit Caesar spricht ein breiteres Publikum an; das Buch hat (auch) daher gleich zwei Einführungen. Die erste bietet einen Problemaufriss und macht ebenso zügig wie unterhaltsam klar, was der Verfasser präsentieren möchte: Nicht um eine Biographie Caesars im engeren Sinne geht es ihm [1], sondern darum, beispielhaft das "Verhältnis von großen Trends, kleinen Sachzwängen und menschlichen Entscheidungsspielräumen" (19) zu untersuchen. [2] Jehne gelingt es außerordentlich gut, diese Kategorien und ihre Zusammenhänge seinen Lesern zu veranschaulichen: Sein erstes Kapitel ist bevölkert von realen Personen wie Helmut Kohl und Gerhard Schröder, aber auch von literarischen Figuren wie Sam Spade und Hari Seldon, dem "Psychohistoriker" aus Isaac Asimovs Foundation-Romanen. Mit ihrer Hilfe arbeitet er erstens heraus, dass bei der Analyse menschlicher Entscheidungen zu beachten ist, inwiefern sie auf historische Entwicklungen wirken, d.h. ob es sich um kurz- oder langfristige, "starke" oder "schwache" Wirkungen handelt. Unter dem Begriff "kleiner Sachzwang" sei, zweitens, zu verstehen, dass die dem Menschen eigene Handlungsfreiheit de facto durch gesellschaftlich bedingte Normierungen eingeschränkt sei. Derartige Konventionen führten dazu, dass bestimmte Handlungsoptionen naheliegender erscheinen würden als andere. Unter dem Stichwort "großer Trend" hebt Jehne drittens auf "autonome" historische Prozesse ab. Ihr Kennzeichen sei, dass ihre Entwicklungsrichtung durch das Handeln der Akteure nicht mehr steuerbar und höchstens noch ihre Ablaufgeschwindigkeit von menschlichen Handlungen beeinflussbar gewesen sei. [3]
Nun sei es, so Jehne weiter, das Privileg einer historischen Thematik, "dass man den Ausgang der Entwicklungen kennt, folglich klar bestimmen kann, welche Tendenzen und Handlungen wirkungsmächtig waren und welche nicht" (19). Gerade für die späte römische Republik und die Handlungen Caesars gelte dies in hohem Maße: Der zeitliche Abstand des heutigen Beobachters sei groß genug, der Ausgang des historischen Trends mit der Einrichtung der Monarchie unter Augustus bekannt und Einzelne träten als Handelnde hervor, deren Entscheidungen auf den Verlauf des historischen Prozesses man beobachten könne. An diese Feststellung knüpft Jehne seine zweite Einführung in den "Handlungsrahmen" der späten Republik an (20-33). Argumentativ wichtig ist dabei v.a., dass Jehne denjenigen folgt, die die späte Republik als ein System betrachten, welches nicht mehr durch Reformen zu "restabilisieren" gewesen sei. Für ihn liegt also ein autonomer Prozess (in Richtung auf ein monarchisches Kaisertum) vor. Sein Protagonist Caesar konnte daher, wenn überhaupt, nur noch auf die Geschwindigkeit dieses Prozesses einwirken (vgl. 32f.; 148-151).
Inwiefern er dies tatsächlich tat und es dabei auf das Handeln gerade Caesars ankam, untersucht Jehne anhand von verschiedenen "Karrierestationen". Jeweils versucht er zu klären, welche alternativen Handlungsoptionen Caesar hatte und schließlich wählte - inwieweit er also "kleinen Sachzwängen" folgte - und welche Folgen seine Entscheidungen hatte, wie sie sich also auf den "großen Trend" auswirkten. Ausgewählt hat Jehne folgende Entscheidungssituationen: das Festhalten an der politisch nicht (mehr) opportunen Ehe mit Cornelia (34-46), die Bewerbung um den Oberpontifikat 63 v.Chr. (47-58), den Verzicht auf den Triumph im Jahre 60 (59-70), die "Invasion" Galliens (71-82), den Entschluss zum Bürgerkrieg 49 (83-99), die Verfolgung des Pompeius nach Pharsalos (100-112), die Affäre mit Kleopatra (113-127) und den Verzicht auf eine Leibwache im Jahre 44 in Rom, der Caesars Ermordung zumindest erleichterte (128-137). Über diese Auswahl könnte man nun mit dem Autor streiten, zumal er sie leider nicht eigens begründet. Nicht alle drängen sich so unmittelbar auf wie der Entschluss zum Bürgerkrieg und der Gang über den Rubicon. Überzeugend gelingt Jehne aber dennoch das, was für ihn entscheidend ist. Denn er zeigt schlüssig, dass Caesar nicht immer (z.B. während der Zeit in Alexandria), aber doch immer wieder Handlungsoptionen zuneigte, die wohl doch von den meisten seiner Zeitgenossen nicht gewählt worden wären. Hierfür mag, wie Jehne mehrfach anführt, ein stark ausgeprägtes "Selbstbewusstsein" Caesars, also ein ungewöhnliches Zutrauen in die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen ausschlaggebend gewesen sein - warum auch immer ausgerechnet das Individuum C. Iulius Caesar damit ausgestattet war.
Im Schlusskapitel (139-153) wird nochmals verdeutlicht, in welchem größeren argumentativen Zusammenhang die analysierten Episoden in der Sicht Jehnes bedeutsam sind. In der wohl "schwierigsten Entscheidungssituation seines Lebens" (151) habe sich der spätere Diktator zum Gang über den Rubicon entschieden und damit für einen Bürgerkrieg, den (vermutlich) andere Akteure jener Zeit nicht riskiert hätten (vgl. 149). Plausibilisiert hat Jehne dies durch seine Fallbeispiele. Sie legen den Schluss nahe, ein für römische Verhältnisse "atypisches" Verhalten wie die Eröffnung eines Bürgerkrieges sei für Caesar fast schon typisch, jedenfalls nicht ungewöhnlich gewesen. Durch diese Deutung kann Jehne auch seine Frage nach dem Einfluss des Individuums auf den "großen Trend" beantworten: Das unkonventionelle Agieren Caesars sei tatsächlich prägend gewesen - ohne ihn wäre der Niedergang der späten Republik deutlich anders, wohl langsamer verlaufen. Dennoch hält Jehne daran fest, dass Caesar den Krisenprozess der Republik nicht in seiner grundlegenden Richtung verändert, sondern "nur" beschleunigt habe. Das ist insofern keine allzu große Überraschung, weil Jehne eine derartige Deutung schon im zweiten Kapitel angedeutet hatte (32f., s.o.). Entfaltet wird dieser Gesichtspunkt im gesamten Buch nicht so zwingend und systematisch wie der Umgang Caesars mit den "kleinen Sachzwängen". Das liegt indes daran, dass sich kaum anders als über alternative, hypothetische und kontrafaktische Geschichtsverläufe argumentieren lässt, dass ohne Caesar die Republik ebenfalls untergegangen wäre.
Martin Jehne will in seinem Buch nicht zuletzt vorführen, dass und wie "Entwürfe der fiktionalen Literatur" für historische Analysen fruchtbar gemacht werden können (vgl. 154). Das gelingt ihm und ist außerdem anregend zu lesen. Ein abschließendes Beispiel: Das Schlusskapitel fragt "War Caesar das Maultier?" Jenes "Maultier" ist ein unerwartet auftretender, unvorhersehbar handelnder und mental begabter Mutant aus Asimovs Foundation-Zyklus, der alle Pläne selbst des genialen Psychohistorikers Hari Seldon zur Makulatur machte. Für Jehne war Caesar das römische Äquivalent des Asimov'schen Maultiers: Ein in Vielem unberechenbares Individuum, dessen Auftreten und Handeln sich nur sehr begrenzt den erwartbaren Konventionen fügte. Dass Jehne ausgerechnet einen zeugungsunfähigen Mutanten als Referenzfigur für den angeblich sexuell unersättlichen Caesar heranzieht, entbehrt nicht einer gewissen - vermutlich beabsichtigten - Ironie. Andererseits: Welche literarische Figur eignete sich wohl besser als das Maultier, "First Citizen" des Galaktischen Imperiums, um mit ihr einen Römer zu vergleichen, der zum Stammvater einer Dynastie wurde, welcher es lange partout nicht gelingen wollte, eigene leibliche Nachkommen als Erben einzusetzen und deren eigentlicher Gründer sich mit dem Titel princeps schmückte?
Anmerkungen:
[1] Für einen Überblick über neuere Caesar-Biographien und -forschungen vgl. E. Baltrusch: Matthias Gelzer und sein "Caesar", in: M. Gelzer: Caesar. Der Politiker und Staatsmann. Neudruck der Ausgabe von 1983 mit einer Einführung und einer Auswahlbibliographie von E. Baltrusch, Stuttgart 2008, IX-XXIII.
[2] Dazu vgl. mit den wissenschaftlichen Belegen M. Jehne: Caesars Alternative(n). Das Ende der römischen Republik zwischen autonomem Prozess und Betriebsunfall, in: K.-J. Hölkeskamp (Hg.): Eine politische Kultur (in) der Krise? Die "letzte Generation" der römischen Republik, 141-160; und ebd. den Beitrag von U. Walter: Struktur, Zufall, Kontingenz? Überlegungen zum Ende der römischen Republik, 27-51.
[3] Grundlegend zur Diskussion der historischen Prozesstheorie dieser Art ist weiterhin Chr. Meier: Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: K.-G. Faber / Chr. Meier (Hgg.): Historische Prozesse, München 1978, 11-66.
Fabian Goldbeck