Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Aus dem Englischen von Christian Detoux, Zürich: Dörlemann Verlag 2005, 240 S., ISBN 978-3-908777-06-9, EUR 18,90
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Medizingeschichte, als Kulturgeschichte erzählt, ist in. Besonders für das große Gebiet der Seelenheilkunde erscheint ein solcher Zugang angezeigt, denn psychische Erkrankungen waren immer gesellschaftliche Phänomene. Roy Porter war Professor für Sozialgeschichte der Medizin am Londoner Wellcome Institute for the History of Medicine und prägte in diesem Sinn seit den 1970er-Jahren bis zu seinem Tod 2002 die britische Medizingeschichte. Er konnte zeigen, dass er anregend unprätentiös und fern gelehrter Fachsimpelei eingängig zu schreiben verstand, und überraschte - vielleicht gerade deswegen - mit einer Fülle originärer Zusammenhänge. Gerade sein letztes Buch ließ also moderne Psychiatriegeschichte auf höchstem Niveau erwarten.
Als der Rezensent die deutsche Übersetzung der 2002 bei Oxford University Press erschienenen Ausgabe in der Hand hielt, kamen die ersten Zweifel auf: Eine Kulturgeschichte des Wahnsinns von den Griechen bis zum DSM-IV auf 240 kleinformatigen Seiten? Immerhin wollte sich Porter ausdrücklich nicht in das umstrittene Feld begeben, die Natur der Geisteskrankheit zu ergründen, sondern eine "kurze, klare und vorurteilslose Darstellung ihrer Geschichte" (10) erzählen; und dies trotz der Schwierigkeiten, die Entwicklung eines Phänomens zu umreißen, ohne eben dieses zu erklären und ohne sich auf eine seiner Interpretationen festzulegen. Ein Balanceakt, dem Porter nicht wirklich gerecht wird. Schon die selbst gewählte, an Shakespeares Polonius angelehnte Ausgangsfrage, "Ist Geisteskrankheit nicht das Rätsel aller Rätsel?" (7), macht dies deutlich.
Porter beginnt mit den frühen griechischen Vorstellungen vom Wahnsinn, wie sie sich in den Mythen und Epen darstellen. Einen Quantensprung macht Porter in der Entwicklung hin zur so genannten Hippokratischen Epoche aus, in welcher statt im Übernatürlichen die Ursache von Störungen in der Säftelehre gesucht wird. Diese bezeichnet er als "rationale" (50) Medizin. Die Renaissance, den Gedanken der Humoralpathologie weiterführend, wird als "Höhepunkt und Abschluß der klassischen Tradition" (56) gewürdigt. In Mittelalter und Neuzeit galt der Wahnsinn fortwechselnd als negativ - da verrückt, unmoralisch - oder positiv - da weise, moralisch. Obwohl bereits hier Porters Chronik im Wesentlichen zu einer britischen gerät, will der Rezensent den gerafften Überblick über den Hergang vor 1800 als gelungen und nachvollziehbar gutheißen. Auch stellt Porter die merkwürdigen Ambivalenz von einerseits gesellschaftlicher Abwertung Irrer und andererseits gleichzeitiger Hingezogenheit zu bestimmten Erkrankungsbildern im Laufe der Moden unterworfenen Zeiten gut dar: über die Melancholie, Nervosität, Hysterie und Hypochondrie bis zu den heutigen Somatisierungsstörungen und Essstörungen. Porter skizziert für diese und die folgenden Zeitabschnitte zudem nicht die Arzt-Patienten-Beziehung als bekannte Täter-Opfer-Geschichte und bezieht trotz der Kürze fundiert Stellung zu Foucaults Behauptung einer 'großen Gefangenschaft' der Andersseienden. Er macht die steigenden Asylierungszahlen Ende des 19. Jahrhunderts an Konsum- und Dienstleistungswirtschaft fest (94-99) und folgt damit statt einer ideologisch einer empirisch vorgehenden Psychiatriehistoriografie. Auf kleinstem Raum folgen dann eine Vielzahl wertvoller und so noch nicht gelesener Gedanken, gerade was den an die Anstalten gebundenen Erkenntnisfortschritt des 19. Jahrhunderts angeht (100-130). Die britischen Inseln werden schließlich in zwei kurzen Spezialkapiteln über Frankreich (131-135) und Deutschland (135-143) verlassen, die nicht wirklich überzeugen.
Alle Kapitel unterliegen dem Zwang der Kürze und damit einer gewissen Modellhaftigkeit. Infolgedessen werden auch Aretaios', Descartes', Lockes, Tukes oder Maudsleys Konzepte handbuchartig wiedergegeben. Im Falle Heinroths, Kraepelins oder Reils führt dieser selbst auferlegte (?) Pointierungswille aber angesichts ihrer Gesamtenwürfe zu einem schiefen Bild. Es wird genauso viel Richtiges wie Falsches gesagt. Und hinsichtlich der selbst verpflichteten Unvoreingenommenheit wagt der Rezensent die Meinung, dass diese hier nicht durchgehalten wurde. Reil wird Porter schlichtweg nicht gerecht (136). Heinroths Theorie wird gewohnt einseitig dargestellt: Der lehnte körperliche Krankheitsursachen keineswegs ab (136), vielmehr verstand er unter Seelenstörungen nur diejenigen, die von der Seele ihren Ausgang nehmen. Schock- und Zwangsbehandlungen führte er zwar auf, doch stets betont als Mittel der zweiten Wahl, wenn der Kranke sich für seine 'direct-psychische Methode' als unzugänglich erwies: eben im Sinn des Brownianismus, des Vitalismus, der Ganzheitsmedizin. Es verschließt sich dem Rezensenten, wieso nun die Säftelehren der Griechen als 'rational' gewürdigt, die Erregungslehre und dergleichen indes als "spekulative Phantasien" (138) herabgewürdigt werden. Und warum wird Heinroth stets in Verbindung mit martialischen Methoden gebracht, obwohl er diese im kausalen Sinn sogar ablehnte? Bei der Abhandlung der 'Somatiker', die den Schlüssel der Therapie nun im Körperlichen sahen, wird jedoch kein einziges Wort über derlei verloren. Ja, sie - insbesondere Griesinger, verkürzt wieder mit "Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten" zitiert (140) - "kurbelte[n] die wissenschaftliche Forschung an und gab[en] möglicherweise auch den Patienten jene Würde zurück" (140). Zielt Porter damit auf jene Forschungsethik der "deutschen Somatiker", über die er drei Seiten später sagt: "Sie schämten sich nicht, den Krankheiten mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den Kranken" (143)? Über Kraepelin, dessen Wirkungsort Dorpat einem klassischen Fauxpas gleich als Teil Preußens ausgemacht wird (178), wird ebenso holzschnittartig und damit verkehrt wie richtig festgestellt: Er habe den progressiven Verlauf psychischer Krankheiten postuliert (141). Stellt doch gerade die eher günstige Prognose des Manisch-Depressiven-Irreseins gegenüber derjenigen der Dementia praecox einen wesentlichen Parameter der Kraepelin'schen Dichotomie dar. Auch leuchtet die Überbetonung der Forschungsaktivität der Universitäts- gegenüber der Anstaltspsychiatrie nun gerade für das Reich im 19. Jahrhundert nicht ein (u. a. 135). Weiterhin erscheint es nötig, dem Konnex Gesellschaft und Psychiatrie vor und während des Nationalsozialismus in einer Kulturgeschichte des Faches mehr als sechs magere Zeilen zu widmen (180).
Die Darstellung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hebt sich davon wohltuend ab: Zunächst liest man kluge Worte über die aus heutiger Sicht sonst natürlich von vornherein abgewerteten Schock-, Pharmako- und psychochirurgischen Methoden. Ebenso feinsinnig entlarvt der Autor die Selbstgefälligkeit vieler heutiger Psychiater gegenüber ihren Vorvätern, indem er auf das sich immer noch im hemdsärmeligen Klärungsprozess befindliche, aber nach wie vor unbeseitigte klassifikatorische Durcheinander hinweist. Porter zieht ihnen aber auch den Zahn, dass ihr Säkulum als humaner Höhepunkt der psychiatrischen Behandlung zu preisen sei. Es genügt dazu der Hinweis, dass die Lehrer der heutigen Generation Zehntausende der ihnen Anvertrauten in die Gaskammern führten. Stattdessen mahnt Porter die gegenwärtig tätigen Psychiater sich ins Stammbuch zu schreiben, dass dem Fach noch immer jene gedankliche und professionelle Einheit fehlt, die andere medizinische Disziplinen auszeichnet.
Der Autor ist seiner eigenen Vorgabe, eine kurze, klare und unvoreingenommene Geschichte vorzulegen, kaum gerecht geworden. Der letztere Anspruch wird nicht gegenüber allen untersuchten Gegenständen durchgehalten. Der Beweis, verwickelte Zusammenhänge, wie es kulturgeschichtliche der Psychiatrie nun einmal sind, auf 240 kleinformatigen Druckseiten angemessen und nicht angerissen und damit verzerrt darstellen zu können, steht noch aus.
Holger Steinberg