Michael Thimann (Hg.): Jean Jacques Boissard: Ovids Metamorphosen 1556. Die Bildhandschrift 79 C7 aus dem Berliner Kupferstichkabinett (= Ikonographische Repertorien zur Rezeption des antiken Mythos in Europa; Beiheft V), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2005, 228 S., 75 Abb., 76 Farbtaf., ISBN 978-3-7861-2509-9, EUR 48,00
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Die zentrale Figur der Publikation bildet mit dem in Besançon geborenen Jean-Jacques Boissard (1528-1602) ein typischer Vertreter des nordeuropäischen Späthumanismus, der im Laufe seines jahrzehntelangen, rastlosen Wanderlebens ein weitgespanntes Netz persönlicher Kontakte zu Intellektuellen und Gelehrten seiner Zeit knüpfte. Nachdem er sich 1574 in Metz niedergelassen hatte, wo er bis zu seinem Tod als Präzeptor im Haus des protestantischen Adligen Claude Antoine de Vienne lebte, tat er sich durch eine vielgestaltige Publikationstätigkeit hervor. So ist sein Name verknüpft mit literarischen Werken wie auch mit einer Reihe von Stichsammlungen, die teilweise nach autografischen Darstellungen des in der Zeichenkunst dilettierenden Boissard entstanden. Auf Grund seiner antiquarischen und historiografischen Schriften - heute noch am bekanntesten ist seine mehrbändige Beschreibung der Topografie und Altertümer des antiken Rom ("Romanae urbis topographiae et antiquitatum", Frankfurt am Main 1597-1602) - verkörperte Boissard außerdem das zeittypische Ideal eines allseitig gebildeten "Polyhistor".
Nachdem sich die moderne Forschung - wenn überhaupt - stets nur für einzelne Teilaspekte von Boissards Schaffen interessiert hatte, bietet Thimanns Buch nun endlich einen kompakten biografischen Abriss, der die bislang in den unterschiedlichsten Quellen verstreut vorliegenden Zeugnisse zur Frühzeit dieses Dichters und Publizisten umfasst. Anlass hierzu war die spektakuläre Entdeckung einer nach 1556 datierbaren, eindeutig Boissard zuzuschreibenden Zeichnungsserie zu Ovids "Metamorphosen" im Berliner Kupferstichkabinett. Diese verdankt ihre Entstehung einer Initiative von Boissards damaligem Brotherrn und Gönner, dem fränkischen Adligen Wolffgang Müntzer von Babenberg (1524-1577). Müntzer war Ende 1555 von Ingolstadt aus zu einer Reise ins Heilige Land aufgebrochen und Boissard hatte sich, einem für diese Zeit durchaus typischen Muster folgend, der adligen Reisegruppe als gelehrter Begleiter angedient.
Ihre Bedeutsamkeit erhalten seine Darstellungen zum einen durch den Umstand, dass es sich bei ihnen um den umfassendsten gezeichneten "Metamorphosen"-Zyklus der Renaissance handelt. Zum anderen erweisen sich die in der Art eines Federkunststückes ausgeführten, mit ihrer feinen Schraffurmanier die Kupferstichtechnik imitierenden Miniaturen in vielen Fällen als ikonografische Neuschöpfungen, die sich nicht auf Vorbilder der älteren Illustrationstradition beziehen. Im ersten, einleitenden Teil des Buches erhellt Thimann ausführlich die historischen und sozialen Entstehungsbedingungen der Zeichnungsfolge, der er die Stellung eines Ausnahmewerks in der Geschichte von Ovids Nachleben in der Frühen Neuzeit zuweist (76). Thimann interpretiert die Berliner Bildhandschrift denn auch sehr überzeugend als typisches Beispiel für die ganz persönliche Bildallegorese und das rationale Ovid-Verständnis eines vielseitig gebildeten Humanisten Mitte des 16. Jahrhunderts. Im Anschluss an den Tafelteil deutet er die Darstellungen Blatt für Blatt und legt die künstlerischen Inspirationsquellen der einzelnen Kompositionen offen.
Generell geht Thimann bei der Interpretation mit dem zur Verfügung stehenden historischen Material mit äußerster Zurückhaltung vor. Angesichts der nach wie vor zahlreichen ungeklärten Fragen, die sich mit der Berliner Serie verbinden, ist diese Vorgehensweise dem Gegenstand sicherlich angemessen. Durchaus überzeugend wirkt die behutsam entwickelte These, bei der auf dem ersten Blatt der Serie (Tafel 2) dargestellten Figur des bärtigen(!), ausschließlich von Musikinstrumenten umgebenen Apoll handele es sich um ein Kryptoporträt Boissards (54). Ja, man ist sogar versucht, Boissards Züge - und nicht, wie von Thimann vermutet, jene Ovids - auch in dem Profilbildnis eines von den Musen gekrönten Dichters auf einer weiteren Zeichnung (165; Tafel 4) zu erkennen.
Gelegentlich fühlt sich der Leser angesichts der interpretatorischen Zurückhaltung des Autors allerdings etwas verunsichert. Dies ist etwa der Fall, wenn Thimann mithilfe eines ausführlichen kosmologischen Exkursus zu erklären versucht, weshalb bei Boissard ein für einen "Metamorphosen"-Zyklus ungewöhnliches Kosmosdiagramm (Tafel 6) dem Thema "Apollo und die Musen" (Tafeln 2, 4) benachbart erscheint - nur um dann festzustellen, der fragmentierte Zustand des Illustrationsprojektes verbiete "tiefergreifende Mutmaßungen über eine kosmologische Dimension, die Boissard möglicherweise der ovidischen Geschichte von der Schöpfung der Welt [...] unterlegen wollte" (53 f.).
Ebenso verwirrt, wenn Thimann zunächst erklärt, es sei nicht mehr zu ermitteln, ob Boissards Zeichnungen allesamt 1556 entstanden, oder ob Boissard das Projekt auch noch in den Jahren danach weiterverfolgte (29), dann aber im weiteren Verlauf des Textes den Entstehungszeitraum der Zeichnungsserie auf das Jahr 1556 einengt (69). Dies zwingt den Autor dazu, die in den Zeichnungen festzustellende Rezeption von zeitgleich publizierten Werken der Buchgraphik (44 f., 76 ff.) mit dem Hinweis zu erklären, Boissard habe dank seines humanistischen Netzwerkes umgehend Kenntnis von diesen Arbeiten erhalten. In Wirklichkeit darf man in jenen Blättern, auf denen Boissard seine Figuren nicht mehr in antikische Gewänder hüllt, sondern ungeniert in modernen Trachten präsentiert (s. bes. Tafeln 28, 34, 40, 50, 54), wohl einen deutlichen Hinweis darauf sehen, dass es sich bei der Berliner Zeichnungsfolge um ein Projekt handelt, das Boissard nachhaltig beschäftigte: Allzu deutlich sind die Verbindungen zu den Kostümbildern, die er während der Fortsetzung seines Italienaufenthalts von 1556 bis 1560 sammelte und 1581 in einem Stichwerk präsentierte.
Ein latenter Widerspruch tut sich schließlich auch dann auf, wenn Thimann zunächst erklärt, offen lassen zu wollen, ob die Bilder eine lediglich inwendige Kenntnis der "Metamorphosen" beim Betrachter voraussetzten, oder ob sie zusammen mit einer Textausgabe betrachtet werden sollten. Letzteres würde sie erneut zum Status einer traditionellen Textillustration "herabwürdigen" (72). Schließlich werden Boissards Zeichnungen dann aber doch kurzum als "textloser Bilderovid" beziehungsweise "als autonome Bilder" behandelt und dieser Umstand als Innovation gegenüber der bestehenden älteren Illustrationsgeschichte charakterisiert (74, 81, 83).
Die von Thiemann am Ende unbeantwortet gelassene Frage nach einer direkten Abhängigkeit zwischen der von Hendrick Goltzius ab 1589 publizierten Kupferstichserie zu den "Metamorphosen" und Boissards Zeichnungsfolge (82) darf dagegen entschieden bejaht werden. Hierfür sprechen nicht nur die Übereinstimmungen in der Auswahl der jeweils dargestellten Szenen. Plausibel wird dies zudem durch Boissards Freundschaft mit dem in Antwerpen ansässigen Kartografen Abraham Ortelius, der ihm den Zugang zum dortigen Verlagsgewerbe vermittelte [1]; ferner durch den direkten Kontakt zu der Stecher- und Verlegerfamilie Goltzius, zeichnete Julius Goltzius doch für die Kupferstichtafeln in Boissards 1581 erschienenem Kostümbuch "Habitus variarum orbis gentium" verantwortlich. Entsprechend mag auch Julius' Cousin Hendrick Kenntnis von dem von Boissard zusammengetragenen Handschriften- und Bildmaterial gehabt haben. Für die nur bis zum frühen 19. Jahrhundert sicher rekonstruierbare Geschichte der Berliner Zeichnungsfolge ergibt sich hieraus die Folgerung, dass sie sich - wie von Thimann selbst angedeutet (30) - wohl noch im späten 16. Jahrhundert im Besitz Boissards befand.
Anmerkung:
[1] Siehe hierzu den von Johannes Henricus Hessels publizierten Briefwechsel: Abrahami Ortelii et virorum eruditorum ad eundem et ad Jacobum Colium Ortelianum Epistulae, Cambridge 1887.
Ulrike Ilg