Norbert Konegen / Peter Nitschke (Hgg.): Staat bei Hugo Grotius (= Staatsverständnisse; Bd. 9), Baden-Baden: NOMOS 2005, 183 S., ISBN 978-3-8329-1433-2, EUR 29,00
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Luise Schorn-Schütte / Sven Tode (Hgg.): Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit, Berlin: Akademie Verlag 2006
Christoph Strohm (Hg.): Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen: Mohr Siebeck 2017
Die letzten 40 Jahre der Geschichte des politischen Denkens haben Horst Dreitzels Diktum bestätigt: Forschungsfortschritt ergibt sich vor allem aus der detaillierten Einbettung der untersuchten Argumentationsgänge in den zeitgenössischen Diskussionskontext, wie er sich aus der konkreten Diskussionssituation des Autors und der durch ihn rezipierten Literatur darstellte. Erst in einem zweiten Schritt sollten sich dann 'moderne' Fragen an den Gang dieser Argumentation stellen. Eike Wolgasts 'Politik der evangelischen Stände und Wittenberger Theologie', Quentin Skinners 'Hobbes', Horst Dreitzels 'Monarchiebegriffe', Blair Wordens 'Sound of Virtue' sind Beispiele für grundlegende und Bahn brechende Studien. Der durch Laurens Winkel und Hans Blom, letzterer ein Beiträger des vorliegenden Sammelbandes, herausgegebene Band zu Grotius und der Stoa ist hierfür ein weiteres Beispiel. Philologischer Scharfsinn und kontextbezogene Diskussion sind auch mit Bezug auf Grotius anzuraten, nicht zuletzt weil Grotius im Verlauf seiner Schriften durchaus bedeutsame Schwerpunktveränderungen unternahm. Schon die Erforschung von Kontext und Argumentation von "De Iure Praedae" durch eine Arbeitsgruppe am NIAS 2004/5 ist ein Beispiel dafür, dass bereits einzelne Schriften von Grotius ausgesprochen kontroverse Thesen provozieren und tatsächliche Fortschritte in der Grotius Forschung allein durch sehr präzise und zunächst einmal enge Fragestellungen zu erreichen sind. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass Grotius sich nicht zuletzt im Recht bewegte und im Zeichen von Rechtsgelehrten wie Donellus sich die Behandlung von Eigentum und Personenrecht in diesem Zeitraum dynamisch veränderte.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Titel des schmalen Bandes (rund 180 Seiten) "Staat bei Grotius" recht allgemein, die Frage nach "Alternativen zum modernen Staat" geradezu eine Überfrachtung, die eher apodiktische Form der Titel der Einzelbeiträge - Eigentumsfrage im Naturrecht, Widerstandsrecht bei Grotius - als überraschend. Handelt es sich hier um Vorurteile des Historikers gegen politologische Zugänge? Oder sollen die teils sehr kurzen Beiträge und sehr knappen Listen einschlägiger Literatur dem Studenten der ersten Semester der Politologie, der sich durch zahlreiche Pflichtveranstaltungen quälen muss und für den die Geschichte des politischen Denkens nur eine unter vielen lästigen Verpflichtungen darstellt, als Leitfaden dienen? Dann aber hätte die Privatrechtsgeschichte erheblich mehr Aufmerksamkeit erfahren müssen. Auch ein 'Textbook' muss bestimmten Anforderungen genügen.
Peter Nitschke behandelt die "Eigentumsfrage im Naturrecht" und vertritt die These, sie "liefere die substantiellen Eckpunkte für die Gewinnung einer Staatstheorie, wie sie sich dann z. B. bei Hobbes im Leviathan so paradigmatisch dokumentiert" (23). Der Rezensent versteht diese These nicht. Was dokumentiert sich im Leviathan? Welchen Standpunkt der neuen Forschung nimmt Nitschke ein? Wie steht er zu der harschen Kritik, welche Richard Tucks Verbindungslinie zwischen Hobbes und Grotius durch Perez Zagorin erfahren hat? [1] In welchem Zusammenhang soll die Ausdifferenzierung von dominium und imperium zu den Theorien von res publica, Souveränität und maiestas stehen? Nitschke stellt fest: "im Prinzip findet sich jedes Land in der Prämoderne auf der Suche nach einer Neudefinition der politischen Ordnung, die mehr oder weniger deutlich jenseits der klassischen aristotelischen Metaphysik gewonnen wird" (24). Mancher Leser, der die Konjunktur der Aristoteles-Kommentare gerade im 16. und 17. Jahrhundert und ihre intellektuelle Bedeutung bedenkt - durch Autoren wie Petrus Victorius und Henning Arnisaeus und noch durch Conring -, wird mit dieser recht apodiktisch vorgetragenen "These" seine Probleme haben. Ist der Begriff "Eklektizismus" und "Eklektiker" für Grotius wirklich angemessen (wird er doch inzwischen für die "eklektische Philosophie" eines späteren Zeitraums benutzt)? In welchem Verhältnis steht Nitschkes Rede vom "Eigentum" bei Grotius zu Grotius' Terminologie von dominium und imperium? Ist eine Studie über die deutsche Frühaufklärung wirklich der einschlägige Beleg für die politische Theorie des Johannes Althusius (40, Anm. 80)? Dafür erhalten wir jedoch gleich noch Hinweise auf die politische Theorie von Carl Schmitt (43). Der Leser erhält also eine ganze Reihe von Anregungen durch Nitschke. Aber ihnen haftet, so ganz uneingerahmt durch die Forschung, etwas arg Unverbindliches an.
Manfred Walther geht bei seiner Diskussion zum Widerstandsrecht bei Grotius leider nicht auf die vorhandene Forschungsliteratur zum Widerstandsrecht ein, vor allem nicht auf Boettcher. Das alte Cliché der "gut lutherischen Tradition des leidenden Gehorsams" (50) taucht daher auch bei ihm wieder auf. Warum behandelt Walther für diesen Gegenstand nicht "De Iure Praedae" oder, noch einschlägiger, die elf Thesen Grotius' zur Legitimation des Aufstandes der niederländischen Stände gegen den König von Spanien? Kann man angesichts der Fülle der von Grotius formulierten möglichen Fälle legitimer Gewaltanwendung von Untertanen gegen ihre Herrschaft, die von Walther zu Recht aufgezählt werden (61), von einer "qualifizierten Bestreitung" des Widerstandsrechtes sprechen? Kennt Walther die Diskussionen der Zeit bei Barclay, Owen oder später Gartz und anderen einerseits, bei Besold, Gerhard, Volcmarus, Rosenthal andererseits? Lässt sich aber die "Eigentümlichkeit" (63) einer Lehre ohne Bezug auf die zeitgenössischen Argumentationen ermitteln? Ich vermag unter den formulierten Punkten (61) keinen einzigen eigentümlichen Punkt zu entdecken. Deutsche Theologen wie Gerhard oder Juristen wie Rosenthal und Volcmarus haben alle diese Punkte diskutiert. Grotius scheint hier Gemeinplätze dessen zu formulieren, was der englische Bischof Bilson 1585 als besondere Rechtsverhältnisse des Reiches und der Niederlande gedeutet hat. Schade, dass Walther sich für die Diskussion solcher Zusammenhänge nicht interessiert.
Anders der Charakter des Beitrages von Christian Gellinek. Er versucht einen Entwicklungsgang in der Argumentation von Grotius zwischen seinem "De Iure Praedae" und dem "De Iure Belli ac Pacis" im Hinblick auf die staatliche Ordnung zu ergründen. Die neuere Forschung, besonders zur spanischen Spätscholastik, ist keineswegs durchgehend rezipiert (die Arbeit von Anabel Brett fehlt). Auch die Aussage, "als Merkmal einer möglichen staatlichen Zwangsmassnahme hat sich das von Grotius vertretene Recht jus circa sacra gegen ihn selbst [...] gekehrt", erscheint mir problematisch, denn zum Problem wurde hier nicht das Recht der Obrigkeit in Kirchensachen an sich, sondern die Frage, wo die Souveränitätsrechte lagen, allein bei den einzelnen Provinzen der Niederlande oder auch bei der Union insgesamt. Auch der Hinweis, bei Grotius erscheine ein "Keim" später entwickelter Grundrechte (75), wirkt ohne Bezug auf beispielsweise Donellus problematisch.
Hervorzuheben ist der Beitrag von Hans Blom. Als Leiter der Arbeitsgruppe zum "Ius Praedae" am NIAS ist ihm seine Vertrautheit mit der gesamten Forschung sofort anzumerken. Vor allem Bloms Rekonstruktion der Grotianischen Argumentation im Zeitverlauf (1599-1625) und im Kontext der Konflikte, in denen Grotius stand, ist superb. Ich hätte mir bei der Erörterung von Grotius' Melitius einen Hinweis auf die Debatten der Jahre 1548-50 zum Interim und zur Adiaphora-Frage gewünscht. Blom zeigt in jedem Falle, wie politische Ereignisgeschichte, reformierte Konfessionalisierung und Grotius' Argumentationsveränderungen zusammenhingen. Grotius war auch nicht allein in dem "Widerstreben, Meinungsverschiedenheiten unter den Christen zu betonen" (91), den Chef-Berater von Königin Elisabeth trieb ein ähnliches Motiv, wenn er calvinistische Prediger zur Rechenschaft zog. Weniger einleuchtend erscheint Bloms Diskussion der tatsächlichen Kirchenzucht innerhalb der reformierten Kirchen - die Durchschlagskraft der Kirchenzucht und die Durchschlagskraft der Konfessionalisierung, als der Engführung des Bekenntnisses, die vermittelnde Positionen ausschloss, scheint mir auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu liegen.
Es fehlt hier der Platz, auf alle Beiträge gleichermaßen einzugehen. Der Charakter des Bandes sollte deutlich geworden sein. Er umfasst Beiträge unterschiedlicher Qualität. In der Regel ruht die Interpretation auf Grotius' Hauptwerk, welches dann aus der Vogelperspektive mit den 'Hauptwerken' anderer 'Klassiker' verglichen wird. Peter Schröders Beitrag zu Hobbes und Grotius fällt in diese Kategorie. Andere Beiträge ergründen textnäher bestimmte Probleme, beispielsweise Frank Grunert das Problem des Vertrages. Insgesamt spiegelt der vorliegende Sammelband die Tatsache, wie ungleichgewichtig die deutschsprachige Geschichte der politischen Theorie in der Gegenwart ist.
Anmerkung:
[1] Perez Zagorin: Hobbes without Grotius, in: History of Political Thought 21 (2000), 16-40.
Robert von Friedeburg