Georg Schmidt / Martin van Gelderen / Christopher Snigula (Hgg.): Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400 - 1850) (= Jenaer Beiträge zur Geschichte; Bd. 8), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 558 S., ISBN 978-3-631-54949-0, EUR 86,00
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Der Band versammelt einen bunten Strauss von Beiträgen zu Themen wie kollektiven Privilegien konkreter ständischer Gruppen, Souveränitätsansprüchen von Gemeinwesen (Freiheit als Anspruch, keinen Höheren auf Erden zu haben) oder Fragen religiöser Toleranz (bzw. Freiheit der Religionsausübung), ohne dass recht deutlich würde, wo die Beiträge über das längst Bekannte des jeweiligen Problemkomplexes hinausgehen oder (überhaupt) Verbindungen zwischen ihnen herstellen. Es beschleicht den Leser bei der Lektüre die Ahnung, dass ein griffiger Begriff gesucht wurde, um höchst verschiedene Phänomene unter einen Hut, nun eben den 'Freiheitshut', zu bringen, ohne dass der Frage nach ihrem Zusammenhang oder ihrer inneren Entwicklung irgendwie näher gekommen worden wäre.
Nun schadet es auch nicht, solide Artikel zu den einzelnen Gegenständen nochmals in einem weiteren Sammelband versammelt zu finden, und die Vielzahl der mit dem Begriff 'libertas'/Freiheit verwobenen Gegenstände wird durch den Band auch durchaus gespiegelt. Die von Schmidt, van Gelderen und Snigula in der Einleitung insinuierte Zielsetzung, nämlich dem Dualismus der modernen individuellen Freiheit und frühneuzeitlicher kollektiver Freiheitsvorstellungen zu entgehen, "die bürgerlich liberale Konzeption der Freiheit als Handlungsfreiheit des Individuums angesichts der Vielfalt republikanischer Theorien [...] nicht einseitig [zu] bevorzugen", zielt jedoch ins Leere. Denn es geht insbesondere im Nachgang zur Diskussion um die durch van Gelderen und Skinner herausgegebenen Bände zum Republikanismus - einige der Beiträge hier, beispielsweise von Opalinski zu Polen, sind im Grunde in derselben Form bereits in diesen Bänden publiziert worden - nicht um 'Bevorzugung' einiger oder Wiederauffinden anderer, vergessener Traditionen.
Wir wissen eben längst, dass Spätmittelalter und frühe Neuzeit kollektive Freiheitsvorstellungen, vor allem für privilegierte Herrschergruppen, kannten, aber auch aus dem Naturrecht und dem ius divinum Pflichten für jeden Einzelnen ableiteten und daraus Rechte zur Erfüllung dieser Pflichten gefolgert wurden. Wir wissen auch, dass die frühe Neuzeit im Schoße der Frühaufklärung und Aufklärung die individuelle Handlungsfreiheit im Horizont individueller Entwicklungsmöglichkeiten gegenüber den gesellschaftlichen Pflichten aufwertete. Und wir wissen ebenso, dass das seitens der Obrigkeit durchzusetzende 'gemeine Beste' im Verlauf des 18. Jahrhunderts schrittweise durch die bürgerliche Freiheit als "verselbständigte Handlungsfreiheit des Individuums im Staat" (Stolleis) abgelöst wurde.
"Freiheitsvorstellungen" mögen, wie die Einleitung feststellt (3), eine lange Tradition besitzen, aber die philosophischen und rechtshistorischen Umbrüche, die den klassischen Republikanismus zu Grabe trugen und zugleich den Staat mit seinen gleichen Staatsbürgern und ihrer verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit als Grundrecht entstehen ließen, reichen nach den jüngeren Forschungen zum Naturrecht, zum Freiheitsbegriff und -verständnis sowie zum Verhältnis von sozialen Eliten und Republiken keineswegs bis ins Mittelalter und auch nur bedingt bis in das 17. Jahrhundert zurück. So renommierte Forscher wie Knud Haakonssen, Paul Rahe, Ian Kempshall oder Janet Coleman haben das eindrucksvoll belegt.
Die 'Freiheit' eines Gemeinwesens nach außen hatte weder in der historischen Wirklichkeit noch in der Reflektion ihrer Beschreibungen irgendeine direkte Verbindung zur Freiheit der Untertanen oder Bürger eines solchen Landes, weder in der Schweiz noch in Polen. Anders gesagt: Der fundamentale intellektuelle Bruch des 17. und 18. Jahrhunderts mit der Vergangenheit stellt sich nun wieder erheblich schärfer dar, als vielleicht in den 80er bis 90er Jahren geglaubt. Das belegen die Forschungen von Barbara Stollberg-Rilinger zur Diskussion um die Landstände im Ausgang des Alten Reiches ebenso wie der im vorliegenden Band veröffentlichte Beitrag von Hans-Werner Hahn (520-521) oder die ebendort zu findende ironische Frage von Joachim Whaley, ob Hegel und Paine die Potentiale der Freiheit im frühneuzeitlichen Reich angesichts emphatischer jüngerer Beschwörungen der "Gewissensfreiheit im frühneuzeitlichen Reich" (398) vielleicht verkannt hätten. Sie zeigen, dass die Berufung auf vermeintlich alte Rechte und Freiheiten zur Verteidigung tatsächlich neuer Forderungen nicht mit der direkten Relevanz älterer Freiheitsvorstellungen zu verwechseln ist und dass bei der Aufwertung des Alten Reiches und seiner Freiheiten doch vielleicht ein Wenig des Guten zu viel geschehen ist.
Wie nun die Transformation des Naturrechts, die Aufwertung des Individuums und seiner Entwicklung, die Diskussionen um religiöse Tolerierung und die Umsetzung dieser Entwicklungen in das positive Verfassungsrecht miteinander zusammenhingen, dass wäre die Frage, zu der die Beiträge insgesamt kaum neue Einsichten liefern. Eher wird man sagen müssen, dass kollektive Freiheiten und Untertanenrechte häufig zu schnell und zu oberflächlich in eins gesetzt werden, etwa bei Georg Schmidts Auslassungen über die deutsche Freiheit. Schade auch, dass ein Beitrag etwa zu Christoph Besolds These der Religionsfreiheit als Naturrecht, das jedem Untertanen erlaubt zu glauben, was er will, oder von Annabel Brett über das Verhältnis von Naturrecht und Freiheit in der spanischen Schule fehlen. Aber gut, das mögen Steckenpferde des Rezensenten sein, der sich auch eine stärkere Vernetzung der Diskussion zum gelehrten Schrifttum und der politischen Publizistik gewünscht hätte.
Diese kritischen Auslassungen dürfen die Bewertung der einzelnen Beiträge aber nicht trüben, die hier schon zur Information für die Leser dieser Rezension aufgelistet werden:
Auf die Einleitung von Schmidt, van Gelderen und Snigula folgen: Helmut G. Walther zur mittelalterlichen Diskussion um den Begriff der kollektiven Freiheit im römischen Recht; Martin van Gelderen zum "Weg der Freiheit" aus Italien in die Niederlande - offenbar das jüngere Gegenstück zu Pococks Weg der Freiheit von Florenz über England nach Amerika; Klaus Dicke zu "kollektiven Freiheiten im frühneuzeitlichen Völkerrechtsdiskurs"; Meinolf Vielberg zur Freiheit bei Tacitus in der Rezeption von Hutten und Erasmus; Wolfang G. Müller zu Freiheitsideen in Shakespeares Julius Caesar; Detlev Altenburg zu Visionen der Freiheit im Musiktheater; Thomas Maissen zum Schweizer Freiheitshut; Jonas Nordin zu schwedischen Vorstellungen zur Freiheit; Georg Schmidt zur Idee der deutschen Freiheit; Hans-Jürgen Bömelburg und Edward Opalinski zur polnischen Freiheit; Vaclav Buzek und Zdenek Vybiral zur Freiheit in Böhmen; Janos Varga zur Freiheit der Heiducken in Ungarn; Janko Prunk zu Freiheitsvorstellungen in Slowenien; Sebastian Olden-Jorgenson zur Freiheit im dänischen Frühabsolutismus; Peer Schmidt zu Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Spanien; Volker Leppin zur Freiheit als Zentralbegriff der frühen reformatorischen Bewegung; Luise Schorn-Schütte zur Freiheit in der politica christiana; Martin van Gelderen zum Verhältnis von Gewissen und Freiheit in England und den Niederlanden; Arno Strohmeyer zum Verhältnis von Vaterlandsdiskurs und Freiheitsvorstellungen in Österreich; Joachim Bahlcke zum Verhältnis von Migrationserfahrungen und Freiheitsvorstellungen; Joachim Whaley zur Frage der religiösen Toleranz als allgemeinem Menschenrecht; Fania Oz-Salzberger zum Verhältnis von Freiheit und Gemeinschaft (auch hier eine Reprise zum Beitrag in den Republicanism Bänden); Geert van den Bosche zur Freiheit in den belgischen Staats- und Nationsbildungsprozessen des späten 18. Jahrhunderts; Andreas Klinger zur deutschen Freiheit im Revolutionsjahrzehnt; Siegrid Westphal zum Verhältnis von Freiheit, Eigentumskultur und Geschlechterordnung; Ian Hampsher Monk zu kultivierter Höflichkeit und kollektiver Freiheit und Hans-Werner Hahn zur alten Freiheit am Beginn der Moderne.
Der Band eignet sich für Leser der ersten Semester, die von der Vorstellung weggeführt werden sollten, in der frühen Neuzeit tummelten sich ausschließlich absolutistische Fürsten und stumme Untertanen. Für Seminare, die einen europäischen Überblick zu einem Gegenstand 'Freiheit' geben wollen, ist die Zusammenführung der ganz unterschiedlichen Freiheitsbegriffe und -vorstellungen in den verschiedenen europäischen Länder sicherlich lohnend. Gerade auch Studenten, die sich gerne auf deutschsprachige Texte konzentrieren wollen, wird hier gutes Material an die Hand gegeben. Ob zugleich auch neue Forschungsperspektiven eröffnet werden, da muss ein Fragezeichen erlaubt sein.
Robert von Friedeburg