Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Sechster Band: 1916-1918. Hrsg. v. Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft; Bd. 50.6), Stuttgart: Klett-Cotta 2006, 962 S., ISBN 978-3-7681-9816-5, EUR 58,00
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Harry Graf von Kessler (1868-1937), der Essayist, Diplomat, Kunstmäzen und Weltbürger, zählt zu den faszinierendsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Dieser Ruhm speist sich zum guten Teil aus Kesslers monumentalem Tagebuchwerk, das zu edieren sich das Deutsche Literaturarchiv zur Aufgabe gemacht hat. [1] Dabei setzt man sich in Marbach offensichtlich unter Zeitdruck: So folgt der nun vorgelegte Band (Bd. 6; 1916-1918) nicht mehr der Chronologie und die editorischen Prinzipien sind äußerst zurückhaltend. Die Ausgabe ist weder literaturhistorisch-kritisch angelegt, noch lässt sich - trotz des rudimentären Fußnotenapparates - von einer kommentierten Ausgabe sprechen. Eine derartige Edition würde, so argumentiert der Herausgeber (719-721), angesichts der schieren Textmenge derart aufwändig geraten, dass eine Publikation in weite Ferne rücken würde. Um die Kritik vorweg zu nehmen: Das gewählte Verfahren stellt den Historiker völlig zufrieden, für den Laien dürften sich hier und da Wissenslücken auftun, zumal Kessler ein eifriger Wanderer zwischen den Welten von Diplomatie, Militär und Kunst war. In vielen Fällen hilft hier aber das umfangreiche Register weiter.
Der vorliegende Band behandelt die Zeit zwischen dem 8. September 1916 und dem Jahresende 1918, also ziemlich genau die Phase des Ersten Weltkrieges, für die wir heute einen signifikanten militärischen wie gesellschaftlichen Totalisierungsschub feststellen. Der Band endet mit der deutschen Niederlage, dem Ausbruch der Revolution und dem Ende des Kaiserreichs. Hinzuweisen ist auf eine Lücke in der Quelle (24. Februar bis 23. August 1917); der entsprechende Tagebuchband gilt als verschollen. Die Entscheidung der Herausgeber, die Kriegsjahre 1916-18 vor den Jahren 1914-16 zu publizieren, wirkt dann etwas störend, wenn man die Weltkriegszeit als eine biografische wie historische Phase lesen möchte: So bezieht sich der Diarist wiederholt auf vorangegangene Kriegserlebnisse und persönliche Begegnungen; auch wird es bis zum Erscheinen des zweiten Kriegsbandes kaum gelingen, Kesslers politische Entwicklung zwischen 1914 und 1918 nachzuvollziehen.
Die Schilderung setzt mit dem Beginn von Kesslers diplomatischer Karriere ein. Nachdem er seit Kriegsbeginn 1914 als Reserveoffizier Stabsdienst an der West- und Ostfront geleistet hatte, versuchten einflussreiche Freunde ab Mitte 1916, für den gesundheitlich angeschlagenen Kessler eine frontfernere Verwendung zu erreichen. Diese eröffnete sich im September mit seiner Kommandierung an die Gesandtschaft in Bern, wo er mit der Organisation der deutschen Kulturpropaganda in der neutralen Schweiz betraut wurde. Hier ist ein Mann mit dem weltbürgerlichen Herkommen und den politischen Interessen Kesslers in seinem Element. So gibt die Edition wertvolle Aufschlüsse über die Entwicklung der deutschen Kriegspropaganda, und zwar nicht nur in der Schweiz. Kesslers Verbindungen in die Kunstwelt ermöglichten es ihm, deutsche Kulturschaffende für Gastspiele in der Schweiz zu gewinnen und diejenigen, die ohnehin in der Schweiz lebten, für die deutsche - respektive Kesslers eigene - Agenda zu verpflichten. Eine besondere Rolle spielte sein Engagement für den Aufbau der Filmpropaganda.
Doch blieb Kesslers Interesse bald nicht mehr auf sein Ressort beschränkt. So diskutierte er mit dem eng befreundeten Elsässer Schriftsteller René Schickele intensiv die Frage des Reichslandes Elsass-Lothringen, dessen staatsrechtliche Lösung beide als zentrale Voraussetzung für eine von deutscher Seite initiierte Friedenslösung erkannten. Überhaupt nahm die Friedensfrage einen immer größeren Raum in den Überlegungen Kesslers ein. Diese gipfelten in einer von ihm vermittelten (aber nie zu Stande gekommenen) geheimen Sondierung zwischen dem französischen Ministerpräsidenten Painlevé und dem österreichisch-ungarischen Außenminister Graf Czernin - eine Episode, die im Hinblick auf die spätere Sixtus-Affäre von Interesse ist.
Je tiefer sich der ohne Mandat agierende Kessler in die deutsche Außenpolitik hineinarbeitete, desto pointierter geraten im Tagebuch die Charakterisierungen der Akteure, so zum Staatssekretär Gottlieb von Jagow (111: "Jagows natürliches Ausdrucksmittel ist der Seufzer"); zu dessen Nachfolger Arthur Zimmermann (125: "gutes Bürgertum, ein Über-Burschenschafter; [...] nicht sehr intelligent, aber schlau: operiert mit geringen intellektuellen Mitteln geschickt"); schließlich zu Richard von Kühlmann (264: "Sein Bestes ist die ihm eigene Mischung von Levantinertum mit baierischer Bauernschwere").
Auch mit der ab Herbst 1916 eine immer entscheidendere politische Rolle einnehmenden Obersten Heeresleitung kam Kessler wiederholt in Kontakt. Hans von Haeften war ein häufiger Gesprächspartner in Fragen der Filmpropaganda. Wichtig sind auch die kritischen Einlassungen zur Arbeit der Politischen Abteilung des Generalstabes, da diese bis heute ein Desiderat der Weltkriegsforschung darstellt. Überraschend ist schließlich die für 1916/17 anerkennende Charakterisierung Erich Ludendorffs, den Kessler als einen für Meinungen und Vorschläge zugänglichen Technokraten erlebte.
Neben den Charakterisierungen der Akteure sind es die Einblicke in die Strukturen und Arbeitsweisen der deutschen Außenpolitik, die das Tagebuch lesenswert machen. Denn Kessler agierte in einer Sphäre der Politik, die in den traditionellen Quellen schwer auszumachen ist: Die der persönlichen Verbindungen, der Sendboten, der Seilschaften, der Ohrenbläser, der Nachrichtenhändler, der Entscheidungsfindung in der Weinstube. Seine Gesprächspartner findet er nicht im Reichstag, sondern im Bellevue, im Baur au Lac, im Adlon, in der Mittwochsgesellschaft oder in der Deutschen Gesellschaft 1914. Hier brieft er, zwischen Hauptspeise und Dessert, den Staatssekretär zur Stimmung in der Schweiz oder erfährt in der Garderobe Interna zu laufenden Kanzlerstürzereien. So wenig transparent diese Kanäle sind, so schwer ist es mitunter, Kesslers tatsächlichen Einfluss auf die Politik exakt zu bestimmen, die er angestoßen zu haben behauptet.
Die beruflichen und privaten Begegnungen mit Kunstschaffenden bilden einen weiteren Schwerpunkt der Darstellung. Kessler kannte jeden und alle kannten Kessler: So bleibt die Zahl der Künstler und Publizisten, die im Register keine Aufnahme gefunden haben, überschaubar: Annette Kolb und der erwähnte René Schickele gehören zu seinen engen Freunden; mit Paul Cassirer sucht er die deutsche Emigrantenszene in Zürich an die deutsche Kulturpropaganda heranzuführen; die Brüder Curt und Fritz von Unruh genießen seine Protektion, Johannes R. Becher tritt ihm (und dem Leser) fast durchwegs im suizidalen Drogenrausch gegenüber; George Grosz und Wieland Herzfelde arbeiten für ihn an einem Filmprojekt; mit Rainer Maria Rilke führt er ein faszinierendes Gespräch über die Position des Intellektuellen im Krieg (181-83).
Im November 1918 endete die Verwendung in der Schweiz, stattdessen wurde Graf Kessler von der neuen Regierung als Gesandter nach Warschau entsandt. Die Gründe für seine Ernennung dürften im Wesentlichen im seinerzeitigen Mangel an republiktreuen Diplomaten, seiner persönlichen Bekanntschaft mit den Entscheidungsträgern und in seiner Kriegsbekanntschaft mit dem General Jósef Piłsudski zu suchen sein. Kesslers Mission geriet ebenso kurz wie erfolglos. Für die wichtigsten diplomatischen Aufgaben, den Schutz der deutschen Minderheit und die Organisation der Rückführung der deutschen Truppen, fehlten die Nachrichtenmittel nach Berlin und die Ansprechpartner auf polnischer Seite. Im Verlauf der innerpolnischen Auseinandersetzungen um die Positionierung Polens im Vorfeld de Versailler Verhandlungen obsiegte die ententistische Partei, und der deutschen Mission wurden Mitte Dezember die Pässe gegeben.
Das Bild, das das Tagebuch von seinem Autor zeichnet, ist ein ganz faszinierendes. Zunächst nämlich das eines politischen Dandys; eines Mannes, der im stockkonservativen preußischen Hochadel genauso zuhause ist wie im avantgardistischen Kulturproletariat; ein Mann, der sich auf der Reise von Frankfurt nach Bern schon mal nachts auf diplomatischem Wege die Grenzstation offen halten lässt (236); ein Mann, der, während in Deutschland tausende Menschen im "Steckrübenwinter" 1916/17 dem Hungertod zum Opfer fallen, im Berner Hotel Bellevue für Max Reinhardt und Freunde aus eigenen Mitteln ein "Souper zu 40 Gedecken" arrangieren lässt (135); ein Mann, der auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung und seines weit gesponnenen Netzwerkes an persönlichen Verbindungen Zugang zu höchsten Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Kultur besaß. Dieser Kessler der Kriegszeit präsentiert sich in seinen Tagebüchern nicht nur als der weltmännische Geistesmensch, als den man ihn kennt, sondern vor allem auch als ein zoon politikon, das sich selbst erfindet. Von der Basis einer verhältnismäßig bescheidenen diplomatischen Position aus entwickelte er aus schierer Leidenschaft und ohne eigentlichen Auftrag bemerkenswerte politische Aktivitäten. In deren Mittelpunkt stand die Suche nach Gesprächsmöglichkeiten mit den Feinden und das Bewusstsein, dass es nach diesem alles umfassenden Krieg einen wie auch immer gearteten Neuanfang in den Beziehungen zwischen den Staaten und Kulturnationen geben müsse. Dieses Ziel ist ehrbar, auch wenn auf Kesslers Weg dorthin die Grenzen zwischen staatsbürgerlicher Verantwortungsfreudigkeit und politischem Spieltrieb nicht immer klar gezogen bleiben. Er ist - und auch das zeigen seine Tagebuchaufzeichnungen - ein Wilhelminer im guten Sinne.
Anmerkung:
[1] Siehe die Rezension von Peter Walkenhorst: Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Vierter Band: 1906-1914, Stuttgart: Klett-Cotta 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/05/9591.html (01.09.2006).
Markus Pöhlmann