Geschenktipps zu Weihnachten

Gangolf Hübinger, Erfurt / Frankfurt/O.



Bücher von 2006, die intellektuelle Profile in neues Licht rücken können und an denen sich über die Weihnachtszeit die historische Einbildungskraft erproben läßt:

Für Brieffreunde:
Walther Rathenau: Briefe. 2 Teilbände (1871-1922). Herausgegeben von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin, Düsseldorf: Droste Verlag 2006. (Walther Rathenau-Gesamtausgabe, Band V)

Gut dreitausend Briefe verführen zu einer Reise ins Innere des Deutschen Kaiserreichs. Manchmal zu den überirdischen Höhen des neuen Kulturstaates, manchmal ins Innerste imperialistischer Weltbeherrschung, in Joseph Conrads Herz der Finsternis. Ein Millionär und Prophet, ein "Jesus im Frack" erscheint dem frühen 20. Jahrhundert. Hier der unermüdliche Organisator der elektrochemischen Industrie, dem selbst die anstrengende Safari durch das südwestliche Afrika nicht den Blick für Anleihen und Diamanten trübt. Dort der kulturelle Weltdeuter und Wohltäter, der die Berliner Maler-Sezession fördert, verarmten Schriftstellern ein Sprungbrett verschafft, in der Hauptsache aber sich selbst in den Mittelpunkt der öffentlichen Kulturkritik schiebt. Auch nach dem verlorenen Weltkrieg erlahmt die utopische Urteilskraft der Briefbotschaften nicht. Rathenau glaubt an eine Zukunftsgesellschaft jenseits von freiem Markt und von diktiertem Plan und erhofft dazu eine Symbiose der Intellektuellen und Ökonomen quer zu den Bürgerkriegs-Ideologien der Epoche.


Für die Verknüpfung von Biographie und Zeitgeschichte:
Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985, Göttingen: Wallstein Verlag 2006.

Weniger um Plessners anthropologisches Werk geht es. Im Zentrum der fesselnd geschriebenen Lebensgeschichte stehen das unvermutete Exil des völlig assimilierten und getauften Sohnes eines jüdischen Vaters und die Remigration an eine deutsche Universität. An der Rijksuniversiteit Groningen erfährt Plessner nach 1933 viel riskante Hilfe und wirkt als Mittler der deutschen und niederländischen Wissenschaftskultur. An der Universität Göttingen sorgt in den 1950er Jahren ein "beiderseitiger Schweigepakt" für Entlastung zwischen Ex-Nazis und Exilierten. Plessner bleibt kein Außenseiter, alle Türen der kritischen Intelligenz stehen ihm offen. In Vorträgen und Essays radikalisiert er das Menschbild von Kants "ungeselliger Geselligkeit". Es müsse offen bleiben, "wessen der Mensch fähig ist". Die Mehrdimensionalität des Lebens verlange keine totale Hingabe, sondern erfordere Grenzen und Takt.


Religion für alte und neue Kulturhistoriker:
Friedrich Wilhelm Graf: Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München: C.H. Beck 2006.

Grafs "Protestantismus" legt für die christlichen Konfessionen zwei große Spannungsfelder frei. Das macht den geschliffenen Buchessay als Einführung in die religiösen Kulturen der Moderne besonders geeignet. Das Protestantische wird immer in Konfrontation zum Katholischen gesehen. Die subjektive Unverfügbarkeit protestantischer Innerlichkeit schlägt sich historisch ganz anders nieder als das Vertrauen in die Lehrautorität der katholischen Universalkirche. In der Folge hat sich protestantische Weltfrömmigkeit wiederum ganz anders politisch und ideologisch aufladen können. Innerhalb des Protestantismus selbst macht Graf gegenwärtig eine weitaus größere Spannung zwischen den hochintellektuellen theologischen Sprachspielen Alteuropas und den charismatischen Herr-Jesu-Feiern südamerikanischer Pfingstchristen aus. Ein "Ritentransfer" des neuen Frömmigkeitstypus nach Europa sei durchaus denkbar.


Wer wissen will, wie Ideen zirkulieren:
Denis Sdižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

Intellektuelle sind weder Götter, die vom Thron zu stürzen sind, noch Priester, die das Arbeiten anderen überlassen. Schon gar nicht sind sie tot. Sie sind Schöpfer und Verteiler von handlungsweisenden Ideen, und das in Rußland, Polen, Frankreich, England und Deutschland in ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten und mit einem je eigenen kulturellen Selbstbewußtsein. Der Moskauer Historiker Sdižkov hat sich mit viel Schwung in die nationalen Bildungswelten vor 1914 eingelesen und die erste Vergleichsstudie dieser Art vorgelegt, chapeau!


Achtung, keine autobiographische Quellenkunde:
Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen: Steidl 2006.

"Schicht auf Schicht lagert die Zeit" (51). Literatur, nach der Grass'schen Wortmelodie komponiert, kann für Historiker von eigenem Reiz sein. Zumal der Autor freimütig "die Dame Erinnerung" die "fragwürdigste aller Zeuginnen" nennt, "je nach Marktlage käuflich" (64). Die Erinnerung ans Überleben mit der SS-Panzerdivision, ans Überwintern in der eiskalten Düsseldorfer Kunstakademie und ans Reüssieren in der Berliner Bohème formt sich bei Grass im Schelmenroman eines Simplizissimus des zweiten Dreißigjährigen Krieges. Auch wenn der Autor im öffentlichen Streit diese Rolle nicht durchhielt und den selbstgerechten Zeitzeugen gab: Er ist ein später Nachfahre des Geschichtsdichters Friedrich Schiller. Auch den lesen Historiker nicht als Quellendokument, dafür um so mehr, um bei der Suche nach der "historischen Tatsache" die produktive Einbildungskraft nicht zu verlieren.