Peter Wurschi: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952-1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 312 S., ISBN 978-3-412-20014-5, EUR 37,90
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Peter Wurschi betrachtet in seiner Leipziger Dissertation das Spannungsfeld zwischen jugendlichen Subkulturen und staatlicher Politik im Bezirk Suhl. Die Provinzialität Südthüringens, bedingt durch die geografisch isolierte Lage zwischen Thüringer Wald und innerdeutscher Grenze und die Kappung der traditionellen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen nach Franken seit 1945, erlaubten es, so Wurschi, "wie mit einem Brennglas auf die Entwicklung nonkonformer Jugendlicher in der DDR zu schauen" (10).
Seine Darstellung soll zeigen, dass nonkonforme Jugendliche erst durch die repressive Politik des SED-Staates politisiert worden seien und dass ihnen - wenngleich oft unintendiert - "eine Vorreiterrolle bei der [...] Individualisierung der DDR-Gesellschaft" zugekommen sei (11). Die staatliche Jugendpolitik habe lediglich reagiert, statt aktiv die Entwicklung der Jugendkultur(en) in der DDR beeinflussen zu können. Insgesamt bestätigt Wurschi mit seiner Studie einige Befunde, die sich in der einschlägigen Literatur zu Jugend, Jugendkultur und Jugendpolitik in der DDR finden. [1] Seine Darstellung geht jedoch insofern über diese hinaus, als er erstmals die Entwicklungen auf diesem Feld einerseits über die gesamte Geschichte der DDR und andererseits ausschließlich in einer Region betrachtet. Somit können etliche seiner Aussagen, die bislang vorwiegend für die urbanen Zentren der DDR formuliert worden sind, durchaus generalisiert werden.
Wurschis Untersuchung ruht auf einer breiten Quellenbasis. Neben der einschlägigen Literatur zu Jugend und Jugendpolitik in der DDR, zu SED-Herrschaft und Opposition hat er Akten der SED, der FDJ und der Sicherheitsorgane in den Thüringischen Staatsarchiven, im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, beim Bürgerkomitee Thüringen und bei der BStU ausgewertet (weist sie aber leider nur in den Fußnoten, nicht aber im Anhang nach). Zudem hat er lebensgeschichtliche Interviews mit 22 Zeitzeugen aus Jugend-, Musik-, Kunst- und Literaturszene, aus Kirche und Staatsapparat, einschließlich MfS, geführt.
Theoretisch stützt sich Wurschi auf drei sozialwissenschaftliche Modelle, auf die Jugend(sub)kulturthese nach Milton Gordon und Rolf Schwendter, auf die Modernisierungstheorie Talcott Parsons' und auf einen generationengeschichtlichen Ansatz, wie ihn Bernd Lindner in der Nachfolge Karl Mannheims für die DDR ausgeführt hat. Der Autor verschweigt nicht, dass die Übertragung westlicher Theoreme auf die DDR immer deren spezifische gesellschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen hätten. Er versteht es allerdings, diese Modelle für seine durchgängig interessante Analyse und damit für den historischen Kontext der DDR fruchtbar zu machen.
Zentral ist dabei die Herausbildung von "subkulturellen Gegenidentitäten" durch "symbolische Provokation", politische Resistenz und gesellschaftliche Verweigerung - all dies begünstigt durch den restriktiven Charakter des sozialistischen Gesellschaftssystems (30). Wenn Wurschi allerdings den statischen Freund-Feind-Schematismus des SED-Staates auf die politische Philosophie Carl Schmitts zurückführt (68), schießt er über das Ziel einer umfassenden theoretischen Grundlegung hinaus.
Die Folge der Generationen, deren Wechsel mit den politischen Zäsuren in der DDR korrelierten (Mauerbau, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker usw.), bildet das Gerüst für Wurschis Darstellung der Entwicklung jugendlicher (Sub-)Kulturen in der Provinz. Im Mittelpunkt seiner Abhandlung steht die zunehmende, seit Mitte der 70er-Jahre rasante Ausdifferenzierung dieser Kulturen, die nach 1989 offenkundig wurde.
Nach dem Zusammenbruch der DDR zeigten die massiven Auseinandersetzungen zwischen den (linken und rechten) Jugendkulturen, dass der Staat "den nonkonformen Jugendlichen in ihrer diffusen Gegnerschaft zu ihm stets den zusammenhaltenden Kitt geliefert hatte", der nun umgehend brüchig wurde (268). Solche Unterschiede, die die Jugendkultur(en) sowohl in chronologischer Hinsicht als auch mit Blick auf ihre zunehmende Ausdifferenzierung prägten, hatten die SED und ihre Sicherheitsorgane in ihrer ideologisch verblendeten Sicht jedoch stets negiert und so aus dem Generationenkonflikt einen "Individuum-Staat-Konflikt" gemacht.
Gerade diese Differenzierung ist aber nach Meinung Wurschis ein zentraler Beleg dafür, dass die jugendlichen Sub- bzw. Gegenkulturen in erster Linie auf die Schaffung individueller Handlungs- und Lebensräume und deren Gestaltung zielten. Während der Autor dies in einzelnen Fällen durch Ausblicke über den Tellerrand der von ihm betrachteten Region (etwa auf die Konflikte während der 1000-Jahr-Feier Altenburgs oder auf die so genannten "Antragsteller") durchaus plausibel zu generalisieren vermag, unterbleibt leider in einigen, wenngleich nur wenigen Detailfragen der Vergleich (so fiel der Organisationsgrad Jugendlicher in der FDJ im Bezirk Suhl mit 49,6 Prozent im Februar 1961 - wie Wurschi suggeriert - keineswegs aus dem DDR-weiten Rahmen, wo diese Quote im Juni desselben Jahres bei 49,9 Prozent lag [2]).
Die Konfrontation der nonkonformen Jugendlichen mit dem Staat wurde von diesem selbst durch sein kollektivistisches Gesellschaftsbild, sein dementsprechendes Erziehungskonzept und die diesem folgende Jugendpolitik provoziert, wonach das Individuum darauf 'verkürzt' wurde, nur ein Element der Gesellschaft zu sein (58f.), das seine Bedürfnisse an der gesellschaftlichen Utopie auszurichten hatte. Als diese mit dem Verlust des Fortschrittsglaubens seit Mitte der 70er-/Anfang der 80er-Jahre verloren ging, versuchte auch die Hegemonialkultur sich sukzessive vom Konformitätsdruck des sozialistischen Staates zu befreien. Insofern folgte die "Mainstream-Gesellschaft" in der Tat dem Weg, den die nonkonformen Jugendlichen bereits gegangen waren.
"Die Jugend trägt alle Widersprüche ihrer Gesellschaft - oft in verschärfter Form - in sich", zitiert Wurschi den Leipziger Jugendforscher Walter Friedrich, der diese Aussage 1975 allerdings nur für die kapitalistischen Gesellschaften gelten lassen wollte (33). Dass dieser Satz auch für die sozialistische Gesellschaft der DDR gilt, hat der Autor in dieser Studie eindrucksvoll bewiesen. Da der Eigensinn Jugendlicher "stets den Mainstream zu einer fortwährenden Liberalisierung" nötige, stelle er - so Peter Wurschi zum Abschluss seiner lesenswerten und durchgängig lesbaren Studie - eine permanente "Gefahr für totalitäre Systeme" dar (284).
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Peter Skyba: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949-1961, Köln u. a. 2000; Michael Rauhut: Rock in der DDR, Bonn 2002; Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002; Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin 2003.
[2] Edeltraud Schulze / Gerd Noack (Hg.): DDR-Jugend. Ein statistisches Handbuch, Berlin 1995, 85, Tab. 111.
Marc-Dietrich Ohse