Hilke Günther-Arndt / Michael Sauer (Hgg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (= Zeitgeschichte - Zeitverständnis; Bd. 14), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 280 S., ISBN 978-3-8258-8449-9, EUR 19,90
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Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen 2003
Michael Sauer / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u.a. (Hgg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen - Grenzüberschreitungen - Grenzverschiebungen, Göttingen: V&R unipress 2016
Michael Sauer / Friederike Runge (Hgg.): Geschichtsdidaktische Hochschullehre. Strukturen Konzepte Methoden, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021
Die oft konstatierte "empirische Lücke" in der Geschichtsdidaktik ist zwar noch nicht geschlossen, aber sie wird immer kleiner - dieser Band trägt dazu bei. Die Herausgeber Hilke Günther-Arndt und Michael Sauer verorten ihn in ihrer Einleitung im weitesten Sinne in der Post-PISA-Diskussion um Kompetenzmodelle und Bildungsstandards. In diesem Zusammenhang sprechen sie sogar von einer "Bringschuld" der Geschichtsdidaktik und formulieren als eine ihrer zentralen Aufgaben, "historisches Lernen als individuellen Wissenserwerb in organisierten Lernprozessen zu erforschen und daraus Leitlinien und Konzepte für Lehrerhandeln zu entwickeln" (9). Aber, so will man hinzufügen, sie möge sich davor hüten, als Zulieferinstanz für Kultusbürokratien zu fungieren.
Es mag verwundern, dass in einer Zeit kleingearbeiteter überprüfbarer Kompetenzerwartungen immer noch recht unklar ist, wie und mit welchen Ergebnissen historisches Lernen, zumal im Geschichtsunterricht als sein einziger kontinuierlicher kontrollierter Schauplatz, abläuft und wie historische Sinnbildung funktioniert. Die eher punktuellen Überprüfungen in älteren Studien wie die von Friedeburg/Hübner 1964 [1], aber auch die großangelegten quantitativen Untersuchungen von Bodo von Borries in den 1990er Jahren [2] führten, was Lernergebnisse von Geschichtsunterricht angeht, zu recht entmutigenden Ergebnissen; überprüft wurden dabei etwa chronologische Orientierung, Begriffswissen, aber auch Textverstehen sowohl von Quellen als auch von Darstellungen. Die frühere Frontstellung quantitativ vs. qualitativ ist inzwischen obsolet und pragmatischeren Auffassungen gewichen.
Der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer im Jahre 2005 als Workshop konzipierten Tagung in Göttingen zusammenfasst, versteht sich als Einblick in die Werkstatt laufender Projekte, durchaus nicht nur in der Geschichtsdidaktik, sondern auch in der pädagogischen Psychologie. Die Beiträge zeigen die große Bandbreite gegenwärtiger empirischer Forschung, auch eine Studie aus der Schweiz ist dabei einbezogen; qualitative Untersuchungen überwiegen. Gruppendiskussionen zur Ermittlung von Mechanismen historischen Denkens und historischer Deutungsmuster bei Kindern und Jugendlichen dominieren die ersten drei Beiträge von Carlos Kölbl (Zum Nutzen der dokumentarischen Methode für die Hypothesen- und Theoriebildung in der Geschichtsbewusstseinsforschung), Ruth Benrath/Michele Barricelli (Erkundungen zum Prozess historischer Sinnbildung im Geschichtsunterricht am Beispiel eines Jugendsachbuchs über Anne Frank) und Monika Pape (Methodische Zugangsweisen zur Erfassung von Geschichtsbewusstsein im Kindesalter: Gruppendiskussionen und Kinderzeichnungen), die in ihr dem Fachgebiet Psychologie zugeordneten Forschungsprojekt auch Schülerzeichnungen einbezieht. Dieses Verfahren wendet auch Achim Jenisch in seinem Beitrag an (Schülerzeichnungen zum historischen Wandel), um Schülervorstellungen über die Ursachen historischen Wandels zu erheben. Dies scheint ein fruchtbarer methodischer Zugang zu sein, um mentale Prozesse, die gerade im Bereich des Geschichtsbewusstseins durch Imagination und bildliche Vorstellungen geprägt sind, zu erfassen.
Ergebnisse der Unterrichtsforschung im engeren Sinne stellen die Beiträge von Matthias Proske/Wolfgang Meseth (Nationalsozialismus und Holocaust als Thema des Geschichtsunterrichts. Erziehungswissenschaftliche Beobachtungen zum Umgang mit Kontingenz) und Monika Waldis/Peter Gautschi/Jan Hodel/Kurt Reuer (Die Erfassung von Sichtstrukturen und Qualitätsmerkmalen im Geschichtsunterricht. Methodologische Überlegungen am Beispiel der Videostudie "Geschichte und Politik im Unterricht") sowie von Andreas Körber (Hinreichende Transparenz der Operationen und Modi des historischen Denkens im Unterricht? Erste Befunde einer Einzelfallanalyse im Projekt "FUER Geschichtsbewusstsein") vor. Eine zentrale Frage des Geschichtslernens, nämlich das Problem historischer Begriffsbildung, untersuchen Martina Langer-Plän und Helmut Beilner, während der Beitrag von Hilke Günther-Arndt sich mit der conceptual-change-Forschung befasst, einem in den naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken seit dem Ende der 1980er Jahre bearbeiteten Feld der Lehr-Lernforschung.
Carlos Kölbl will in seinem Aufsatz besonders die Brauchbarkeit der dokumentarischen Methode für die Hypothesen- und Theoriebildung in der Geschichtsbewusstseinsforschung erweisen. Dabei bleibt der empirische Befund, der nur einen Ausschnitt aus einem großen Erhebungskorpus darstellt, einigermaßen unverbunden, recht schmal und im Sinne des Verfassers in seiner Aussage durchaus irritierend; es überrascht, dass die Ergebnisse nicht mit denen einer Untersuchung zum Geschichtsbild junger Migranten in Deutschland [3] übereinstimmen; der Autor selbst begründet dies mit Unterschieden in der Fragestellung und dem unterschiedlichen Sample der Forschungspartner.
Der thematische Bezug auf Holocaust und Nationalsozialismus findet sich in mehreren in diesem Band dargestellten Erhebungen, gewiss kein Zufall, stellt dieses Thema doch die größte Herausforderung für den Geschichtsunterricht dar. Matthias Proske und Wolfgang Meseth wollen die "Bedingungen der Möglichkeit von Unterricht" (128) zu diesem Thema klären und gehen dabei mit ihrer Fallrekonstruktion andere Wege als die breit angelegte schweizerische Videographie-Studie. Die beiden Autoren setzen sich bewusst von Schuleffektivitätsuntersuchungen ab und verfolgen dezidiert keine spezifisch geschichtsdidaktische, sondern eine erziehungswissenschaftliche Fragestellung, und bieten damit ein Beispiel für das Anregungspotential benachbarter Fächer für die Geschichtsdidaktik.
In ihrem Beitrag über historische Begriffsbildung benennen Martina Langer-Plän und Helmut Beilner einen wichtigen Problembereich historischen Lernens in der Schule: Begriffe, in der Kognitionspsychologie als "Bausteine des Wissens" bezeichnet, lassen sich in dieser organisierenden Funktion nur schwer auf die Geschichte, in lernpsychologischer Hinsicht eine schlecht strukturierte Domäne, übertragen. Die schlichte vorwissenschaftliche Selbstverständlichkeit, mit der in Lehrplänen, aber auch in Bildungsstandards wie in dem vom Verband der Geschichtslehrer Deutschlands herausgegebenen Rahmenmodell unter "Sachkompetenz" zu lernende Begriffe ganz unterschiedlicher Dignität, Provenienz und didaktischer Wertigkeit aneinandergereiht werden [4], kritisieren die Autoren mit Recht.
Ein interessanter Befund ist, dass - entgegen dem in der älteren Geschichtsdidaktik vertretenen Reifungsmodell, das von einer "Verfrühung" der analytischen Beschäftigung mit Geschichte in der Sekundarstufe I ausging - offenbar im Sinne der säkularen Akzeleration schon Grundschulkinder verständig und mit Problembewusstsein über Geschichte sprechen können, dass weiterhin Siebtklässlerinnen das Stilmittel der Ironie anwenden, und dass andererseits noch Leistungskurs-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer historischen Wandel mit präsentischen lebensweltlichen Analogie-Bildungen erklären: auch die "Passung" zwischen Adressaten und Lerngegenstand muss durch Befunde empirischer Forschung optimiert werden. Ein weiter bestehendes Desiderat nennen die Herausgeber in ihrer Einleitung (19): Man benötigt dringend ein geschichtsdidaktisches Handbuch zu Forschungsmethoden, um junge Forscher zu eigenen Untersuchungen anzuregen; dabei stehen einige vorgestellte Forschungsprojekte offenbar in Anlern- und Ausbildungszusammenhängen.
Insgesamt ein anregender Band, der von unterschiedlichen Ansätzen und geschärftem Methodenbewusstsein zeugt und sich erfolgreich bemüht, Licht in die "black box" Klassenzimmer zu werfen; zugleich ein Signal an Lehrkräfte des Faches: die Wissenschaft interessiert sich dafür, was im Geschichtsunterricht geschieht, umgekehrt wollen die Ergebnisse der Forschung in der Praxis umgesetzt werden.
Anmerkungen:
[1] Ludwig von Friedeburg / Peter Hübner: Das Geschichtsbild der Jugend, München 1994.
[2] Bodo von Borries / Hans-Jürgen Pandel / Jörn Rüsen (Hgg.): Geschichtsbewusstsein empirisch, Pfaffenweiler 1991; Bodo von Borries: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher, Weinheim/München 1995; ders.: Jugend und Geschichte, Opladen 1999.
[3]Viola Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten, Hamburg 2003. Vgl. dazu auch Marina Liakova / Dirk Halm: Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, IMIS-Beiträge Heft 30 (2006); http:// www.imis.uni-osnabrueck.de/pdffiles/imis30.pdf, letzter Besuch: 1.8.2008.
[4] Vgl. Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hg.): Bildungsstandards Geschichte. Rahmenmodell Gymnasium 5.-10. Jahrgangsstufe, Schwalbach/Taunus 2006; etwa die Aufzählung (19): "Sie [= die Schülerinnen und Schüler; K.F.] können folgende Begriffe anwenden: Antike, Polis, Kolonisation, Sklavenhaltung, Demokratie, Olympische Spiele, Hellenismus".
Anna Katharina Frings