Cathie Carmichael: Genocide Before the Holocaust, New Haven / London: Yale University Press 2009, XI + 244 S., ISBN 978-0-300-12117-9, GBP 25,00
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In den Richtlinien von sehepunkte wird Verfasserinnen und Verfassern von Rezensionen vorgeschlagen, wie sie ihre Buchbesprechung abfassen sollten. Als erster Punkt wird hier genannt, die "Rezension sollte über den Aufbau und Inhalt des besprochenen Werks informieren [...]." Schon hier halte ich inne, denn das ist im vorliegenden Fall mehr als schwierig. Obwohl Carmichaels Buch selbstverständlich in Kapitel untergliedert ist, ist ein klarer Aufbau und erst recht ein genau umreißbarer Inhalt schwer auszumachen. Das Buch verfolgt die These, dass die Pogrome und Massaker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine "vor-genozidale" Phase vor den Genoziden der Jahre 1912 bis 1923 darstellen (5). Mit der Phase von 1912 bis 1923 sind die Genozide zwischen dem ersten Balkankrieg und dem Vertrag von Lausanne gemeint, eine historische Periode, die für viele Nichtspezialisten auf dem Gebiet der osmanischen Geschichte wie dem Rezensenten unübersichtlich und kompliziert erscheint. Cathie Carmichael ist eine herausragende Spezialistin für die Geschichte des sogenannten Balkans. Mit fünf Büchern und zahlreichen Aufsätzen, die zwischen 1995 und 2009 erschienen sind, gehört sie zu den produktivsten Historikerinnen auf diesem Gebiet. [1] Man merkt dem Buch an, dass es von einer Spezialistin geschrieben wurde, die sich nicht die Mühe macht, die komplexen Vorgänge auf dem Balkan zu strukturieren, geschweige denn ihrem Text eine Form zu geben, die erkennen lässt, um was es ihr eigentlich geht.
Das erste Kapitel stellt so etwas wie eine Einleitung dar. In ihm wird der gewaltsame Abstieg der osteuropäischen Reiche präsentiert, aber auch der "Querschlägereffekt" erläutert (ricochet effect, 16), der die Vertreibung einer Gruppe von Menschen zur nächsten Vertreibung führte. Das Bild des Querschlägers wird auf den folgenden Seiten immer wieder bemüht, hat in meinen Augen aber wenig explikatorische Kraft, weil es von der Metapher einer abgefälschten Gewehrkugel ausgeht - kaum ein passendes Bild für die eliminatorische Gesinnung, die in großen Teilen der Bevölkerung zielgerichtet mobilisiert werden musste, um ihre mörderische Wirkung zu erzielen.
Das zweite Kapitel thematisiert die Suche nach dem loyalen Bürger im Zusammenhang mit der pathologischen Homogenisierung einer ethnisch und politisch "einheitlichen" Bevölkerung im Zuge der Nationenbildung in Südosteuropa. Anstatt sich auf ihr Thema zu beschränken, führt Carmichael alle möglichen und mitunter sehr unpassenden Beispiele aus Europas Geschichte der letzten 500 Jahre an, von der Reconquista zur Vendée. Dazwischen finden sich Vignetten zu Max Zweigs Theaterstück "Die Marranen" (von 1938, nicht, wie die Autorin bemerkt "in the 1930s") und Auslassungen zu William Thomas Walshs Buch "Isabella of Spain" von 1931 oder aber die Inspirationen, die zu Modest Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" führten, die aber nicht zielführend sind, wenn es um die Konstruktion des "loyal citizen" geht. Die Kernaussage des Kapitels gipfelt in der unbelegten Behauptung: "The origin of genocide in Europe revolved around the question of who could be a citizen."(41) Hier wird ein großer Teil der Forschung nicht wahrgenommen, vor allem die Diskussion um Hannah Arendts These, dass der Genozid in Europa ein Effekt der kolonialen Expansion und der in ihr ausgeübten Gewalt sei. [2] In der von King und Stone herausgegebenen Aufsatzsammlung findet sich z.B. Arendts "Bumerang-These", die den Leser zumindest sprachlich an die Querschlägerthese Cathie Carmichaels erinnert, von ihrem Inhalt her jedoch subtiler und komplexer ist. Die Bumerang-Theorie besagt, dass die kolonialen Experimente europäischer Staaten totalitäre Regime auf der Basis von Rassismus überhaupt erst entstehen ließen.
Das dritte Kapitel adressiert genau den Zusammenhang von Kolonialismus und Genozid, zumindest in der Überschrift. Mehr als einen allgemeinen Hinweis erhalten wir aber nicht, stattdessen ist dieses kurze Kapitel gefüllt mit allgemeinen Beobachtungen, unsystematischen Aneinanderreihungen und Ausflügen in Bereiche, deren Relevanz für das wichtige Thema sich dem Leser verschließen. Von Dominik Schallers wichtigem, aber nicht ernst genommenem Hinweis auf die Verbindung vom armenischen Völkermord und Holocaust wankt die Darstellung zu Tacitus' Annalen und dann zu Winston Churchill, alles das in wenigen Zeilen (64).
Kapitel 4 thematisiert die religiöse Komponente von Genoziden - so hofft man wenigstens. Doch auch hier kämpft man sich durch ein Gewirr von gebildeten Aper çus, wenig einschlägigen Beobachtungen und generalisierenden "sweeping statements". Auf ein Zitat Helmut Walser Smiths zur Religiosität im Mittelalter folgt eine Erwähnung der Memoiren Simon Dubnows aus dem Jahre 1881 (80). Ich konnte mich auch in diesem Kapitel des Eindrucks nicht erwehren, dass dies ein Buch über alles ist, was im Entferntesten mit dem Problem des Genozids zu tun hat, ohne dass ein einziges Mal diskutiert wird, was man darunter eigentlich verstehen könnte.
Das fünfte Kapitel mit dem blumigen Titel "The Battleground in Print" geht von einem Querschlägereffekt bei der Verbreitung von Neuigkeiten über die Gewalttaten in den Medien aus, wobei der Fokus stark auf den Printmedien liegt. Die Kunde von Gewalt und Vertreibung habe zu einem Kult der Gewalt geführt, den aber - einem Verdikt Mark Twains zufolge - schon Sir Walter Scott gepflegt habe (89).
Das sechste Kapitel über die Instabilität und den moralischen Niedergang im Zwischenkriegseuropa gipfelt in der Behauptung, der Holocaust hätte ohne den Kollaps der Staaten in Osteuropa und das aus ihm entstehende Vakuum nicht stattfinden können (113). Eine stringente Beweisführung für diese weitreichende These suchen wir vergeblich, auch hier dominiert wieder das thematische Durcheinander der vorangegangenen Kapitel, das auch im siebten Kapitel fortgeführt wird. Hier erwartet man eine Auseinandersetzung mit der Behandlung von genozidalen Praktiken im Gerichtssaal. Stattdessen taucht hier Oscar Slater, jüdisches Opfer eines prominenten Justizirrtums auf, dem von Conan Doyle geholfen wurde (126). Zwei Seiten später geht es um die antisemitische Enzyklika Benedikts XIV. A Quo Primum von 1751 (128), die an den polnischen Klerus gerichtet war, auf den Seiten 128 bis 132 um Menachem Mendel Beilis, ein anderes prominentes Opfer eines antisemitischen Justizirrtums. Spätestens an dieser Stelle möchte man das Buch zuklappen und ausrufen: "Na und?" Auch das abschließende achte Kapitel "Shattered Worlds" kann den Eindruck nicht mehr korrigieren, dass Cathie Carmichael sich nicht die Zeit genommen hat, ihr umfangreiches Wissen und komplexes Material zu ordnen und es für die Leserinnen und Leser in aller gebotenen, aber geordneten Komplexität aufzubereiten. Zieht man die zahlreichen faktischen und grammatischen Fehler hinzu, die immer dann auftauchen, wenn Carmichael deutsche Texte zitiert, so fragt man sich, ob die renommierte Yale University Press inzwischen auch auf ein ordentliches Lektorat verzichtet.
Anmerkungen:
[1] Stephen Barbour / Cathie Carmichael: Language and Nationalism in Europe, Oxford, New York: Oxford University Press, 2000; Cathie Carmichael: Ethnic Cleansing in the Balkans. Nationalism and the Destruction of Tradition, London, New York: Routledge, 2002; dies.: Genocide before the Holocaust, New Haven, CT: Yale University Press, 2009; dies.: Slovenia, Oxford, England, Santa Barbara, CA: Clio Press, 1996; James Gow / Cathie Carmichael: Slovenia and the Slovenes. A Small State and the New Europe, Bloomington, IN: Indiana University Press, 2000.
[2] Richard H. King / Dan Stone: Hannah Arendt and the Uses of History. Imperialism, Nation, Race, and Genocide, New York, Oxford: Berghahn Books, 2007; Patrick Hayden: Political Evil in a Global Age. Hannah Arendt and International Theory, Milton Park, New York: Routledge; 2009.
Norbert Finzsch