Christian Schmitt: Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm (= Deep Focus; 8), Berlin: Bertz und Fischer 2009, 192 S., ISBN 978-3-86505-309-1, EUR 25,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Evelyn Echle: Danse Macabre im Kino. Die Figur des personifizierten Todes als filmische Allegorie, Hannover: Ibidem 2009
Jörg Schweinitz: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin: Akademie Verlag 2006
Michael Diers: Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2006
Thomas Koebner / Thomas Meder (Hgg.): Bildtheorie und Film, München: Edition Text + Kritik 2006
Christian Kiening / Heinrich Adolf (Hgg.): Der absolute Film. Dokumente der Medienavantgarde (19121936), Zürich: Chronos Verlag 2012
Julia Genz / Paul Gévaudan: Medialität, Materialität, Kodierung. Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Medien, Bielefeld: transcript 2016
Felix Reer / Klaus Sachs-Hombach / Schamma Schahadat (Hgg.): Krieg und Konflikt in den Medien. Multidisziplinäre Perspektiven auf mediale Kriegsdarstellungen und deren Wirkungen, Köln: Halem 2015
Lars Nowak: Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning, Berlin: Kadmos 2011
Die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie analysiert die Strukturkomponenten des kinematografischen Pathos und verortet diese im Kontext der Möglichkeit einer Affekttheorie des Films. Die durch philosophische, medienwissenschaftliche und filmsemiotische Denkansätze geprägte interdisziplinäre Perspektive fokussiert neben filminhärenten Gestaltprinzipien ebenfalls die durch den Rezipienten evozierten Bedeutungsspektren. Das Verhältnis von Gestalt und Bedeutung, oder Sinnesdaten und Sinnzuschreibung, bildet die komplexe Grundlage für das "Pathetische als Form der Artikulation [...], so geht es um eine Erkundung der dieser Form der Artikulation inhärenten kommunikativen Möglichkeiten" (13). Eine Vielzahl an Filmbeispielen wird systematisch analysiert, um die Argumentationen präzise zu verdeutlichen. Als wichtigste Auswahl sind zu nennen: Bowling for Columbine (Michael Moore, 2002), Titanic (James Cameron, 1997), The English Patient (Anthony Minghella, 1996), Heaven (Tom Tykwer, 2002), Pearl Harbor (Michael Bay, 2002), Kill Bill: Vol 1 und Vol. 2 (Quentin Tarantino, 2003, 2004), Il Buono, il brutto, il cattivo (Sergio Leone, 1966), Breaking the Waves (Lars von Trier, 1996), Dancer in the Dark (Lars von Trier, 2000), The New World (Terrence Malick, 2005).
Das kommunikative Potential des Pathos erfährt insbesondere im Film eine starke Komplizierung, die sich nur begrenzt durch den Pathosbegriff antiker Rhetorik fassen lässt. Beschreibt πάθoς in der Antike ein 'passives Erleiden', im Gegensatz zum aktiven Handeln, und ist an redende Personen und deren Einwirken auf die inneren Zustände der Zuhörer gebunden, so konstituiert die pathetische Artikulation des Films eine 'aktive Dynamik' zwischen Gestaltprinzipien und Rezeptionsleistung. Der Film verfügt selbst über eine Sprache - über Regeln und Konventionen filmischen Erzählens - die das filmische Pathos über Gestaltprinzipien artikuliert.
In einem ersten Schritt ist das filmische Pathos, ähnlich der antiken Terminologie, auf die affektive Wirkung angewiesen. Die Sprache des Films verfügt hier über "pathos-Topoi [...], die geeignet sind, um Geschichten zu finden, die affektive Wirkung haben" (26). Zu nennen sind: 1. Nähe, "im Sinne einer Präsentmachung des Leidens" (25), 2. Zeichenhaftigkeit, als Technik der "Vergegenwärtigung" (25), 3. Ähnlichkeit, "um Mitleid auslösen zu können" (26) und 4. Plötzlichkeit, als "Überraschungsmoment" (26). In einem zweiten Schritt aber, und das ist für die 'aktive Dynamik' zentral, muss zu den "affektiven Wirkmechanismen eines Films [...] deren Kombination mit bestimmten Bedeutungen" (32) vorgenommen werden.
Die 'aktive Dynamik' der pathetischen Artikulation beschreibt demgemäß einen Transformationsprozess, "der eine sinnlich-affektive Seite von Artikulations- und Kommunikationsprozessen mit einer ideologisch-rationalen zu vermitteln in der Lage ist" (13). In dieser Perspektive lässt sich das Pathetische im Film einerseits als "Transformator" (13) und andererseits als "Bedeutsamkeitsgenerator" (16) charakterisieren. Diese Charakterisierung bildet den semiotischen Referenzrahmen für die "pathetische Semiose" (37), welche die pathetische Artikulation mit der "Stimulierung einer Suche nach bestimmten Bedeutungen in Verbindung" (39) bringt.
Ein zentraler Aspekt pathetischer Semiose wird durch die hermeneutische Suche nach Sinnkonzepten konstituiert. Die Rezeption wird zur Evaluation der filminhärenten Gestaltprinzipien (z.B. Bildkomposition, Kameraperspektive, tonale Charakterisierung durch Filmmusik), um erweiterte Bedeutungsspektren zu entdecken: "Semiologisch gesprochen bilden sich (symbolische) Konnotationen aus, die das (ikonische) denotative Potenzial der Bilder zurückdrängen" (39). Die symbolische Konnotation bildet einen durch die "aktive Rezeption" strukturierten Bedeutungs-Zusatz aus und muss sich grundsätzlich "auf eine 'größere' Bedeutung richten, eine Bedeutung, die der Text- oder Filmstelle einen wie immer gearteten Mehrwert attestiert" (39).
Das Initialmoment dieser hermeneutischen Sinnerweiterung ist in den Gestaltprinzipien des Films verankert. Sind diese Prinzipien in Bezug auf eine pathetische Wirkung organisiert, so ist die erweiterte Bedeutsamkeit als "Effekt singulärer Markierungen" (42) bestimmt. Diese Markierungen fungieren dann als Ankerpunkte und Versprechen: "Die pathetische Artikulation verspricht (eine andere, weitere, größere) Bedeutung, indem sie dem Element (der Szene, dem Ereignis, dem Gegenstand) eine zusätzliche 'Marke' mitgibt, die es als Teil einer größeren Struktur ausweist" (42). Das pathetische Zeichen ist innerhalb der pathetischen Semiose selbst erweitert. In theoretischer Orientierung an Peter Christoph Kern und Roland Barthes lassen sich drei Strukturelemente dieser Zeichen-Erweiterung beschreiben: 1. Ein konkret gegebenes Zeichen wird semiotisch "entleert" (43). 2. Durch Gestaltprinzipien konstituierte "Bedeutsamkeitssignale werden gegeben, die eine weitere Bedeutung des Zeichens in Aussicht stellen" (43). 3. Die Zeichen-Erweiterung erfolgt als eine "referentielle Zuordnung zu einem Wertebereich, die nicht zu deutlich sein darf, wenn sie nicht der rationalen Reflexion anheimfallen soll" (43). Im Akt der Rezeption realisiert sich pathetische Artikulation als ein individuell wahrnehmbarer Effekt, der im "Sinn einer kommunikativen Haltung, [...] auf die Herstellung von Einverständnis aus [ist]" (50). Das Pathos im Film offeriert somit die Möglichkeit, als ein solches wahrgenommen und verstanden zu werden, als "Konsensmaschine, die unablässig Verstehen zu produzieren sucht" (51).
Die spezifische Multimodalität des Films determiniert eine besondere Vermittlung zwischen Sinnesdaten (optisch, akustisch) und Sinn (große, pathetische Bedeutung): Damit eine pathetische Artikulation möglich wird - "aus ikonischen Zeichenbezügen müssen symbolische werden" (63) - tragen demnach eine Vielzahl an Gestaltelementen dazu bei, eine symbolische Zeichen-Erweiterung zu konstituieren. Die Mittel zur "Befreiung aus 'referentiellen Fixierungen'" (64) liefert der Film explizit über die Verwendung von Filmbildern, Musik, Dialog, Schrift und tonalen Strukturen, und implizit durch Montage, Schnitt, Großaufnahme, Kamerahandlung, Kameraperspektive, Zeitraffer, Zeitlupe usw.
Christian Schmitt analysiert präzise, und auf Basis zahlreicher Filmbeispiele, die aktive Dynamik zwischen filminhärenten Gestaltprinzipien und der aktiv-semiotischen Rezeptionsleistung. Vor allem in Orientierung auf eine interdisziplinäre Rezeptions-, Wirkungs-, und Emotionsforschung, welche die Aspekte empathischer Verstehensprozesse und psycho-semiotischer Identifikationsmomente thematisiert, erscheint die Pathetische Artikulation als evidenter Forschungsgegenstand - an der Schnittstelle von Gestaltprinzipien und rezeptiver Verwendung.
Lars Grabbe