Rezension über:

Thomas J. Laub: After the Fall. German Policy in Occupied France, 1940-1944, Oxford: Oxford University Press 2010, XVIII + 330 S., ISBN 978-0-19-953932-1, USD 110,00
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Rezension von:
Christian Hartmann
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Christian Hartmann: Rezension von: Thomas J. Laub: After the Fall. German Policy in Occupied France, 1940-1944, Oxford: Oxford University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/18699.html


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Thomas J. Laub: After the Fall

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Überblicksdarstellungen sind bei deutschen Doktorarbeiten extrem selten; es dominiert die materialgesättigte Detailstudie. Ganz anders im englischsprachigen Raum, wo Nachwuchswissenschaftler häufig komplexe Themen auf vergleichsweise wenigen Seiten darstellen müssen. Auch in der deutschen Wissenschaft war das einmal so. Eberhard Jäckel beispielsweise promovierte 1966 über die gesamten vier Jahre der deutschen Besatzungszeit in Frankreich. Genau dieses Thema hat nun der amerikanische Historiker Thomas J. Laub gut vierzig Jahre später wieder aufgegriffen. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil die Forschung seit Jäckel erheblich vorangeschritten ist. Aber nicht nur das; es bedarf auch neuer Synthesen und Interpretationen.

Die von Jäckel und Robert O. Paxton eingeleitete Neubewertung der Kollaboration des Vichy-Regimes hatte seit den 1970er Jahren die französische Geschichtsbetrachtung über die "années noires" fast schon revolutioniert. Unklar blieb hingegen nach wie vor die Rolle der deutschen Besatzer. Nach der "Wehrmachtsausstellung" suchten Ahlrich Meyer und neuerdings auch Gaël Eismann (deren Ergebnisse Laub allerdings nicht mehr einarbeiten konnte) den "Mythos" einer "sauberen" deutschen Besatzungsherrschaft zu zerstören, ohne dabei freilich zu beachten, dass dies Jäckel bereits längst getan hatte. Besonders die Militärverwaltung wurde dabei zur Zielscheibe der jüngsten Umdeutung, während andere wichtige Akteure der deutschen Besatzung, allen voran der Höhere SS- und Polizeiführer, aber auch die Zentralinstanzen im Deutschen Reich und nicht zuletzt Hitler selbst als "master of the Third Reich" viel zu wenig Beachtung fanden. Im Gegensatz dazu konnte die umfassende wie quellengesättigte Studie von Peter Lieb die Unterschiede zwischen Wehrmacht und SS sowie den übrigen Institutionen der deutschen Besatzungsherrschaft sehr viel genauer herausarbeiten und ein Bild dieser Herrschaft zeichnen, das ungleich plausibler scheint.

Aber wie ist die deutsche Besatzung in Frankreich während der Jahre 1940-1944 zu bewerten, wie die Rolle der einzelnen deutschen Besatzungsinstitutionen und wie die des Vichy-Regimes? Genau dies sind die Fragen, denen Laub in seiner Arbeit nachgeht. Eine Antwort sucht er über vier Ansätze - wirtschaftlich, politisch, weltanschaulich und militärisch. Dies ist ein weites Feld. Anstatt sich mit Einzelfragen zu beschäftigen wie der Geiselkrise, den Judendeportationen oder der Kollaboration, geht es Laub um ein Gesamtbild. Unbekannte Quellen kann er hierzu freilich kaum heranziehen, infolge der Kriegseinwirkungen sind die überlieferten Akten der Militärverwaltung, der Deutschen Botschaft und vor allem der SS vergleichsweise überschaubar. Auf überraschende Archivfunde kann man kaum hoffen, im Vordergrund steht vielmehr die Interpretation und auch die Synthese der bisher bekannten Quellen sowie der einschlägigen Literatur. Wie gut Laub sie kennt, belegen das umfangreiche Literaturverzeichnis sowie seine Bemerkungen in der Einleitung, in der er sich intensiv und höchst kenntnisreich mit dem Forschungsstand auseinander setzt.

Wie sehen seine Ergebnisse aus? Laub stellt sich explizit gegen eine Tendenz der neueren Forschung, welche die Unterschiede zwischen den verschiedenen institutionellen Trägern der deutschen Besatzungsherrschaft in Frankreich zunehmend verwischt. Dagegen betont der Autor, dass die deutsche Militärverwaltung den traditionellen Pflichten, im Sinne einer Fürsorgepflicht für die besetzte Bevölkerung, zunächst weitgehend nachkam. Bemerkenswerterweise waren Verstöße gegen die Verkehrsordnung die meist verfolgte Straftat von Wehrmachtsangehörigen während der ersten beiden Jahre der Besatzung. Auch Geiseln sollten zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, so der Militärbefehlshaber General Otto von Stülpnagel während der Jahre 1940/41 mehrmals, nur mit größter Zurückhaltung als letztes Mittel festgesetzt werden. Nach den ersten Attentaten auf deutsche Soldaten in den Jahren 1941/42 geriet er mit dieser Position in einen immer schärferen Konflikt mit Hitler und dem Oberkommando der Wehrmacht, der schließlich in Stülpnagels Ablösung endete.

Während Autoren wie Meyer oder Delacor im Militärbefehlshaber den eigentlichen Motor der Endlösung der "Judenfrage" in Frankreich sehen, bietet Laub eine ganz andere Deutung. Zu Recht betont er, dass die Militärverwaltung an den Deportationen keinerlei Interesse hatte; die Impulse seien vielmehr von der SS und Hitler bzw. seiner Entourage gekommen. Nicht umsonst ernannte Hitler im Frühjahr 1942 Karl-Albrecht Oberg zum Höheren SS- und Polizeiführer in Frankreich, eine Stelle, die es bisher nicht gegeben hatte. Der Militärbefehlshaber hatte sich eben gerade nicht als "williger Vollstrecker" seiner Politik erwiesen. Für die Militärs blieb der Krieg im Westen ein Kampf zwischen Staaten, also ein Krieg im herkömmlichen Sinne, während die nationalsozialistischen Ideologen in der neuen und radikalen Kategorie der Rasse dachten. Folglich verlor die Militärverwaltung immer mehr die Kontrolle über zentrale Bereiche der Besatzungspolitik. Zusammen mit dem Vichy-Regime war sie der große Verlierer im steten Kampf um Einfluss über die Ausgestaltung der Besatzung in Frankreich.

Das soll die deutsche Militärverwaltung nicht einfach exkulpieren. Ihre Verantwortung war groß. Sie hat die unsäglichen Befehle bei den Geiselerschießungen letzten Endes doch exekutiert, sie hat bei der Verfolgung der französischen Juden am Ende das getan, was von ihr erwartet wurde, und sie verfolgte das Ziel einer maximalen wirtschaftlichen Ausbeutung des besetzten Gebiets. Den französischen Interessen und auch Empfindlichkeiten sollte in letzterem Fall durchaus Rechnung getragen werden. Entscheidend aber war, dass die deutsche Rüstungsindustrie am Ende profitierte. Es war ein sehr ungleiches Geschäft, wie Laub betont: "The Führer gave France the ashes of Napoleon Bonaparte's son and four long years of cold, hunger, and oppression" (292).

Insgesamt bietet Laub eine äußerst überzeugende Gesamtschau jener "années noires". Er zeigt, dass es keine deutsche "Besatzungspolitik", sondern mehrere parallel und teilweise sich kreuzende oder überschneidende "Besatzungspolitiken" unterschiedlicher deutscher Institutionen gab. Somit widerlegt er einige jüngere Forschungen, namentlich jene von Ahlrich Meyer, und orientiert sich eher an "Klassikern" wie Jäckel und Paxton. Das mag vielleicht nicht verwundern, schließlich bietet Laubs Buch nach den zahllosen Detailstudien der vergangenen Jahrzehnte erstmals wieder eine Gesamtdarstellung der deutschen Besatzungszeit in Frankreich. Und noch etwas bietet sein Buch. Es zeigt eindrucksvoll, dass viele jüngere Interpretationen das Ergebnis einer verengten Perspektive sind, die nur Teilaspekte berücksichtigt. Doch kommt es stets darauf an, diese in einen größeren Kontext einzubetten. Das eigentlich ist die große Leistung dieser exzellenten Studie, bei der man nur ein zusammenfassendes Schlusskapitel vermisst.


Anmerkungen:

[1] Eberhard Jäckel: Frankreich in Hitlers Europa. Die Deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966. Robert O. Paxton: Vichy France. Old Guard and New Order 1940-1944, New York 1972.

[2] Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000. Gaël Eismann: Hôtel Majestic. Ordre et sécurité en France occupée (1940-1944), Paris 2010.

[3] Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2007.

[4] Regina M. Delacor: Attentate und Repressionen. Ausgewählte Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS-Terrors im besetzten Frankreich 1941/42, Stuttgart 2000.

Christian Hartmann