Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hgg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 47), Göttingen: Wallstein 2010, 509 S., ISBN 978-3-8353-0496-3, EUR 39,90
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Was verbindet Blackness und New Age, Umweltbewegte und Indienreisende, Autonome und linke Pädagogen? Sie alle waren Teil eines alternativen Milieus, das sich in der Bundesrepublik und anderen westlichen Industriegesellschaften seit den späten sechziger Jahren entfaltete und das gemeinsame Praktiken und Wertvorstellungen entwickelte, die inzwischen teilweise zu "Gemeingütern" (12) geworden sind. Obwohl es kaum feste Strukturen kannte, sondern "bewusst antiinstitutionell" (11) organisiert war, bildete eine gemeinsame Milieukultur seine "zusammenfassende Klammer" (16). Sie verband die unterschiedlichen Akteure miteinander und wies sie in der Eigen- und Fremdwahrnehmung als Teil eines gemeinsamen Ganzen aus: "Als seelenverwandte 'Brüder' und 'Schwestern' erkannten sich die Angehörigen des alternativen Milieus nicht nur an Haartracht, Bekleidung, Idiom und Körpersprache, sie bevorzugten auch bestimmte Wohnformen, Reiseziele und Reiseformen, spezifische Konsummuster und Konsumgegenstände sowie Methoden der politischen Partizipation." (16)
Die vielfältigen Ausformungen und Akteure des alternativen Milieus sind Gegenstand des von Sven Reichardt und Detlef Siegfried herausgegebenen Sammelbands, der auf eine Tagung aus dem Jahr 2008 zurückgeht. Die 22 Beiträge, zusammengefasst in fünf thematische Abschnitte und größtenteils verfasst von Historikern, aber auch von Ethnologen, Politik- und Sozialwissenschaftlern, bieten nicht nur einen ebenso instruktiven wie anregenden Überblick, sondern auch alternative Perspektiven auf die bisher vor allem wirtschafts- und strukturgeschichtlich erschlossenen siebziger Jahre.
Als sehr aufschlussreich erweisen sich zunächst die Aufsätze von Michael Vester und Dieter Rucht, die in einem ersten Abschnitt "theoretische Annäherungen" unternehmen, um das alternative Milieu definitorisch konkreter zu fassen. Während Rucht unter anderem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Neuen Sozialen Bewegungen auslotet, stellt Vester soziostrukturelle Aspekte in den Mittelpunkt. Die große Mehrheit der Alternativen stammte demnach aus "elterlichen Herkunftskulturen mit ausgeprägten Ansprüchen auf geistige Führung oder auch institutionelle Macht" (48). Die Alternativen vertraten andere, teils gegensätzliche Inhalte und Werte, aber verfolgten ebenfalls das Ziel, diese zum Kern einer neuen "Leitkultur" (48) zu machen. Die vier folgenden Abschnitte greifen dann verschiedene Themen und Bezugssysteme auf, die für das alternative Milieu von Bedeutung waren. Sie reichen von "transnationalen Räumen und Ethnizität" über "Konsum und Kritik" sowie "Geschlechterverhältnisse und Subjektivierungsprozesse" bis hin zum Verhältnis von "Alternativmilieu und Neuen Sozialen Bewegungen".
Als "Hochzeit" des alternativen Milieus wird der Zeitraum zwischen dem Ende der sechziger und der Mitte der achtziger Jahre benannt, "einer Scharnierzeit im Übergang vom klassischen zum postklassischen Industriezeitalter" (15). Damit ist jener Zeitabschnitt angesprochen, der von der Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit als Transformationsphase diskutiert wird. In der Mehrzahl der Beiträge verschwimmen die Konturen der siebziger Jahre indes stärker als es der Untersuchungszeitraum von 1968 bis 1983 zunächst vermuten lässt. Das ist ein Gewinn, denn statt verkürzender Präjudizierungen werden immer wieder die fließenden Übergänge von Neuer Linker und Studentenbewegung zu alternativem Milieu und Neuen Sozialen Bewegungen deutlich. Andererseits hätte ein ergänzender Exkurs über politische Organisationen, die in Austausch oder Abgrenzung zum Alternativmilieu bestanden, wie etwa die Zusammenschlüsse der undogmatischen Linken oder die K-Gruppen, den Blick auf Brüche und Veränderungen am Übergang zu den siebziger Jahren schärfen können. Dieter Rucht notiert, wie sehr das Selbstverständnis des alternativen Milieus nicht nur eine "Alternative zum kulturellen und politischen Mainstream" darstellte, sondern auch "zu einigen linken Strömungen, zum Beispiel dem allmählich erodierenden sozialdemokratischen Milieu und dem stark marginalisierten orthodox-kommunistischen Milieu" (68).
Die Mehrzahl der Aufsätze konzentriert sich auf die Bundesrepublik. Wo andere Länder zum Vergleich herangezogen werden, wie zum Beispiel im Beitrag von Klaus Weinhauer zu den Heroinszenen in London und West-Berlin, treten jenseits internationaler Gleichklänge weiter bestehende nationale Spezifika in den Vordergrund. Besonders erfreulich ist, dass viele Beiträge - auch jenseits der eigens dafür vorgesehenen Rubrik - eine konsequent transnationale Perspektive einnehmen. So wird durchgehend deutlich, wie sehr die westdeutsche Alternativszene in grenzüberschreitende Alltagspraktiken und Kooperationen, vor allem aber Wahrnehmungs- und Bezugssysteme eingebunden war, die teils weit über Europa hinausreichten. Das zeigen etwa Anja Bertsch am Beispiel des alternativen Tourismus oder Moritz Ege mit Blick auf westdeutsche Formen von Afroamerikanophilie in der Popkultur.
Die Ambivalenzen, die in diesen beiden Beiträgen unter den Stichworten "Alteritätsaneignung" (Ege) und Konsumgesellschaft aufscheinen, finden ihre Fortsetzung in anderen Aufsätzen, die immer wieder das Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit thematisieren. Angetreten, alternative Lebens-, Gemeinschafts- und Politikformen zu erproben, blieb das Alternativmilieu weiterhin "mit der es umgebenden Gesellschaft durch viele Bande verknüpft" (12). Einerseits erklärten sich Teile des Milieus selbst zum Ausgangspunkt für einen angestrebten gesellschaftlichen Wandel und waren dabei mitunter sehr erfolgreich, worauf Michael Vester hinweist und was vor allem anhand der Neuen Sozialen Bewegungen deutlich wird, aber auch anhand der von Anja Schwanhäusser untersuchten Underground-Medien, die sie als "Avantgarde der Eventkultur" identifiziert. Andererseits empfanden zahlreiche Alternative, vor allem im subkulturellen Bereich, die zunehmende Übernahme oder Adaption ihrer alternativen Vorstellungen und Lebensweisen durch den "Mainstream" als usurpatorisch. Dies thematisiert etwa Uta G. Poiger am Beispiel von Feminismus, Punk und Kosmetik. Das ironische Spiel der Punk-Ästhetik mit Slogans und Auffassungen der vorherrschenden Konsumwelt illustriert eine Reihe weiterer Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten am Übergang von Alternativ- und Mehrheitskultur.
In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, dass der Sektor der alternativen Ökonomie nicht mit eigenen Beiträgen vertreten ist. Zu Recht heben die Herausgeber in ihrer Einleitung die wichtige Funktion von "Reisebüros, Cafés, Galerien, Buchhandlungen oder Kinderläden" (10) hervor, die eine alternative Infrastruktur schufen und dem Milieu seine netzwerkartige Struktur gaben. Das Postulat, Alternativen zu den Arbeits- und Lebensformen der kritisierten "Mehrheitsgesellschaft" zu bieten, brachten die zahlreichen selbstverwalteten Betriebe sichtbar zum Ausdruck. Gleichzeitig wird die oft schmerzhafte Kluft zur alltäglichen Realität, mit der zahlreiche Projekte konfrontiert waren, abermals deutlich: So etwa, wenn Bezugsgrößen des "Systems", zum Beispiel Profitabilität, allmählich auch im alternativen Unternehmen wichtig wurden, oder wenn angesichts von Selbstausbeutung die entfremdete Arbeitswelt der Industrie- und Leistungsgesellschaft manchem Alternativen plötzlich als heile Oase erscheinen mochte.
Zusammenfassend handelt es sich bei dem von Sven Reichardt und Detlef Siegfried herausgegebenen Sammelband um einen wichtigen und sehr lesenswerten Beitrag zur Erforschung der alternativen siebziger und achtziger Jahre, der bereits jetzt als Standardwerk gelten kann. Daran werden sich laufende und zukünftige Arbeiten in diesem Feld gewiss orientieren.
Silke Mende