Rezension über:

Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 205 S., 10 Abb., ISBN 978-3-525-36294-5, EUR 19,90
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Rezension von:
Andreas Schneider
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Schneider: Rezension von: Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/11586.html


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Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt

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Der 40. Jahrestag der studentischen Protestereignisse von "1968" steht unmittelbar bevor. Zu rechnen ist dann mit einer erneuten Welle von Publikationen zu diesem Themenkomplex - wie bereits vor rund zehn Jahren, als zugleich die professionelle Historisierung der Revolte einsetzte. Seither hat die zeithistorische Forschung eine Reihe von substanziellen Studien vorgelegt, die ihren Fokus nicht ausschließlich auf die Jahre zwischen 1967 und 1969 legen, sondern vielmehr den Blick auf die "langen sechziger Jahre", die ungefähr den Zeitraum von 1958 bis 1973 umfassen, erweitert haben. Der hier zu besprechende Sammelband bündelt einige dieser Forschungsarbeiten in sechs prägnanten Aufsätzen. Gemeinsames Ziel aller Beiträge ist es, die einseitige Konzentration auf studentische Akteure zu überwinden, um damit zu einer historiografischen Präzisierung, Differenzierung und Kontextualisierung der "Unschärfeformel '1968'" (8) zu gelangen. Dieses Ziel wird nicht zuletzt von der Motivation getragen, die die öffentlichen Debatten beherrschende Polarisierung bezüglich der Bewertung der geschichtspolitischen Chiffre "1968" aufzuheben und diese Diskussionen "ein Stück weit zu qualifizieren" (7).

In dem ersten, wortgewandt geschriebenen Beitrag des Bandes fasst Wilfried Mausbach konzis die Forschungsergebnisse zur Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit zusammen und kommt zu dem Ergebnis, dass der Aufbruch der jungen Intelligenz kaum ausschlaggebend für eine demokratische Kultur gewesen sei, die bis heute ihre Stabilität aus der öffentlichen Erinnerung an den Holocaust bezieht. Zwar habe die "68er"-Generation die privaten und öffentlichen Debatten um die NS-Vergangenheit radikalisiert und emotionalisiert, doch das eigentliche Verdienst, die Vergangenheitspolitik der Adenauer-Ära zu überwinden, komme in erster Linie der hinsichtlich des öffentlichen Meinungsklimas einflussreichen Generation der "45er" der Geschichtswissenschaft sowie den Massenmedien zu. Dagegen habe vor allem der ubiquitäre Gebrauch einer verkürzten Faschismustheorie durch die "68er" zu einer Anonymisierung der Opfer und Täter und dadurch zu einer "zweiten Verdrängung" (Ulrich Herbert) der nationalsozialistischen Judenvernichtung geführt.

Im folgenden Aufsatz fasst Detlef Siegfried wesentliche Erkenntnisse seiner jüngst erschienenen monumentalen Studie über das Verhältnis von Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur zusammen. [1] Die späten Sechzigerjahre sind für ihn nicht wegen der spektakulären Demonstrationen und Straßenschlachten von herausgehobener Bedeutung, sondern wegen der zwischen 1967 und 1969 stattgefundenen "Kernfusion verschiedener Tendenzen der kulturellen Revolution" (70): Das sich seit den frühen Sechzigerjahren entwickelnde und seit der Mitte der Dekade beschleunigende Konglomerat aus Freizeit- und Konsumkultur sowie politischer Liberalisierung habe sich gegen Ende des Jahrzehnts zu einem gesamtgesellschaftlichen Aufbruch verdichtet, der "1968" überhaupt erst möglich machte.

In ihrem Essay "Sexy Sixties" bietet Dagmar Herzog Einblicke in ihr kontrovers diskutiertes Buch "Sex after Fascism". Die zentrale These lautet, dass das Deutungsmuster eines sexualrepressiven "Dritten Reichs", welches vor allem durch die studentische "68er"-Bewegung offensiv vorgebracht wurde, schlichtweg eine Erfindung der Sechzigerjahre gewesen sei. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts - also auch die Zeit des Nationalsozialismus - sei durch eine "vergleichsweise ausgeprägte sexuelle Liberalität" (79) geprägt gewesen, gegen die sich dann in den Fünfzigerjahren ein vor allem von der katholischen Kirche getragener Sexualkonservatismus gewandt habe. Insofern sei der Antifaschismus der Neuen Linken als eine "antipostfaschistische" (107) Reaktion auf das konservative Klima in der Frühphase der Bundesrepublik zu betrachten. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob nicht bereits die konservative Deutung des "Dritten Reichs" als einer Zeit der "sexuellen Libertinage" Produkt eines spezifischen Ordnungsdiskurses der Nachkriegszeit war. Überzeugender hingegen ist Herzogs Perspektive, die "Errungenschaften der sexuellen Revolution" (79) nicht ausschließlich den "68ern" anzurechnen, sondern auf das Engagement aller Generationen, besonders der Älteren, hinzuweisen.

Torsten Gass-Bolm nimmt daraufhin in seinem Beitrag die in der Forschung bisher wenig beachtete Schülerbewegung der späten Sechzigerjahre in den Blick. Er vermag zu zeigen, dass diese - ähnlich wie der SDS - weitgehend von männlichen Schülern geprägte Protestbewegung Themen aufgriff, die bereits seit den frühen Sechzigerjahren virulent, aber weitgehend unbeachtet geblieben waren. Insofern hatten die sozialistischen Schülergruppen eine "Schrittmacherfunktion" inne, als sie "den bereits im Verborgenen begonnenen Wandel zuspitzte[n] und popularisierte[n] und so wesentlich zur Ausbreitung" (131) von konfliktorientierten Verhaltensmustern und Demokratisierungsforderungen unter der Schülerschaft beitrugen. Deren revolutionäre Zielsetzungen wurden jedoch zugunsten einer Veränderung der Schule im Rahmen des bestehenden Gesellschaftssystems von der Mehrheit der Schüler und Schülerinnen abgelehnt.

Gleichsam wie die vorangegangenen Aufsätze relativiert auch Christina von Hodenberg den Einfluss der "68er"-Bewegung. Diese habe nämlich keineswegs das Mediensystem unterwandert - in den Redaktionsstuben von Presse, Hörfunk und Fernsehen waren radikale Sozialisten stets in der Minderheit und gerieten rasch in die Isolation. Zwar gab es durchaus junge, protestbewegte Journalisten, die - auf den unteren Stufen der Karriereleiter befindlich - jedoch auf konsensuelle Strategien setzten, um Reformen gemeinsam mit Vorgesetzten und Kollegen durchsetzen zu können. Ferner wurde der Wandel der Medienberichterstattung nicht durch die Ereignisse von "1968" verursacht, sondern war Produkt der "langen sechziger Jahre": "Die Leitbilder der gesellschaftlichen Harmonie und der heilen Familie bröckelten schon lange vor dem Ende des Jahrzehnts; ihr im Spiegel der Massenmedien ablesbarer Verfall wurde damals lediglich beschleunigt" (157f.).

Auch der letzte Beitrag des Bandes von Patrick Bernhard über die Institution des Zivildienstes weiß sich einer relativierenden Perspektive verpflichtet. Er kann aufzeigen, dass der explosionsartige Anstieg der Kriegsdienstverweigerer seit 1968 nicht allein auf das Konto der APO ging, sondern in erster Linie Produkt einer "stillen Revolution" (Ronald Inglehart) kollektiver Praktiken und Wahrnehmungen war. Gleichwohl hatten die militanten Aktionen der radikalen Studenten konkrete Effekte: Während der Staat auf Streiks und das rasante Ansteigen der Verweigerer zunehmend repressiv reagierte, verschaffte die Massivität der Proteste gesellschaftlichen Reformforderungen erst die nötige Durchsetzungskraft. Dies war allerdings nur möglich, weil "auch andere Akteure", etwa die evangelische Kirche oder die Gewerkschaften, "in die gleiche Richtung zielende Interessen besaßen" (194).

"1968" war - das machen alle Beiträge sehr deutlich - keine einschneidende Zäsur oder gar "Umgründung der Republik" (Manfred Görtemaker), sondern vielmehr eine sichtbare Verdichtung, Ausweitung und Popularisierung, aber auch Radikalisierung bereits vorher in Gang befindlicher Reformentwicklungen. Trotz des nicht eingelösten Anspruchs, die westdeutschen Entwicklungen im Rahmen transnationaler Kontexte zu beleuchten, liegt mit dem hier rezensierten Sammelband eine attraktive Publikation vor. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch nicht allein innerhalb der zeithistorischen Forschung seine Rezeption erfährt, sondern auch darüber hinaus eine breitere Leserschaft anspricht, um somit dazu beizutragen, "den den öffentlichen Diskurs beherrschenden Extremurteilen" (12) differenziertere Sichtweisen entgegenzusetzen.


Anmerkung:

[1] Detlef Siegfried: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 41), Göttingen: Wallstein 2006. Vgl. die Rezension von Andreas Kühn, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2007/05/11674.html

Andreas Schneider