Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung (= Theorie und Praxis der Diskursforschung), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 380 S., 25 s/w- Abb., ISBN 978-3-531-16810-4, EUR 49,95
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Seit einigen Jahren interessiert sich die Geschichtswissenschaft verstärkt für das Thema Terrorismus. Ergebnis waren eine ganze Reihe wegweisender Studien insbesondere zum bundesdeutschen Terrorismus der 1970er-Jahre. [1] Auch anlässlich des zehnten Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001 sind einige Sammelbände erschienen, die sich dem Thema aus historischer Perspektive widmen. [2] Dominiert wird die Terrorismusforschung jedoch von politikwissenschaftlichen Studien. Eine Geschichtswissenschaft, die sich auch als Bestandteil interdisziplinärer Forschung verstehen möchte, kann von Methoden und Ergebnissen dieser Studien profitieren. [3] Das gilt auch für die hier zu besprechende Dissertation der Politikwissenschaftlerin Claudia Brunner, die sich dem "Wissensobjekt Selbstmordattentat" widmet. Die Arbeit steht an der Schnittstelle von Forschungsfeldern zu Internationalen Beziehungen, gender studies, postcolonial studies, Diskursanalyse und Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte. Diese Konzeption macht die Arbeit auch für HistorikerInnen interessant.
Die Studie beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung des Forschungsdesigns, das Gegenstand, Fragestellung, Theorie und Methode sowie Materialgrundlage festlegt. Die Autorin stellt das "Wissensobjekt Selbstmordattentat" in den Mittelpunkt ihres Interesses. Das heißt, es geht ihr nicht vorrangig darum, Selbstmordattentate zu beschreiben und zu analysieren, sondern sie geht vielmehr der Frage nach, wie Wissenschaft daran beteiligt ist, Wissen und bestimmte Phänomene überhaupt erst zu erschaffen und dabei danach strebt, Macht und Ungleichheit zu manifestieren: Die "Terrorismusforschung [trägt] dazu bei, eine Art 'suicide bombing story' als ordnenden Diskurs zu etablieren, der dafür sorgt, dass unterminierte Gewissheiten hegemonialer und asymmetrischer Machtverhältnisse wieder hergestellt, entlang des Wissensobjekts SMA [Selbstmordattentat, C.H.] befestigt und in Einklang mit einer Sinnordnung legitimierter Gewalt im Kontext nationalstaatlich und transnational organisierter Ungleichheitsverhältnisse gebracht werden." (15) Um dem auf die Spur zu kommen, untersucht Brunner mit den Mitteln der Diskursanalyse den aktuellen englischsprachigen sozialwissenschaftlichen "Mainstream" der Terrorismusforschung zum Thema Selbstmordattentate. Englisch, so begründet Brunner ihre Beschränkung auf die anglophone Literatur, sei die "hegemonial dominante Sprache der Terrorismusforschung" (87). Für ihre Analyse zieht Brunner nicht nur die Texte selbst heran, sondern auch Grafiken, Bilder, Buchcover, Klappentexte und ähnliches Material. Die Auswahl erfolgte nach Kriterien wie etwa Reichweite und (angestrebte) definitorische Prägekraft. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den Jahren 2002 bis 2006.
Was genau unter "Selbstmordattentat" verstanden wird und was die im Titel des Buches angesprochene "okzidentalistische Selbstvergewisserung" damit zu tun hat, erfährt der/die LeserIn erst im Hauptteil des Buches. Das führt zwar dazu, dass man im einleitenden Kapitel etwas im Dunkeln tappt, was den exakten Gegenstand der Studie und seine geografische Einordnung angeht. Allerdings ist es der Fragestellung der Arbeit geschuldet, erst im Verlauf des Analyseprozesses darlegen zu können, wie das untersuchte Wissensobjekt zustande kommt und was es ausmacht. Dem geht die Autorin im zweiten Teil ihrer Studie in drei Schritten nach, die die "Konturen des Wissensobjekts", "Wege zum Wissen" und "Modi der okzidentalistischen Selbstvergewisserung" vermessen.
Brunner stellt fest, dass seit den Anfängen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Selbstmordattentaten vor allem zwei Aspekte charakteristisch waren: die Konzentration auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, der zunehmend mit Selbstmordattentaten gleichgesetzt wurde, sowie eine Verortung des Phänomens in einen dem "Westen" gegenüber feindlich eingestellten islamischen bzw. islamistischen "Orient". Bereits in frühen Arbeiten zum Thema war, so Brunner, die "Verknüpfung der Begriffe Islam, Religion, Selbsttötung und Terrorismus" (82), angelegt, was "nicht notwendigerweise nur mit den beforschten Ereignissen, sondern vor allem mit den theoretischen, methodologischen und epistemologischen Prämissen zu tun hat, unter denen diese Forschung betrieben wird." (82) Diese Prämissen werden dann von der Autorin kenntnisreich und kritisch aus dem Analysematerial herausgeschält. All diese kunstvoll entwirrten Stränge zu präsentieren, ist an dieser Stelle unmöglich. Als übergreifendes Ergebnis der Studie lässt sich jedoch festhalten, dass der hier untersuchte Mainstream der Terrorismusforschung zu einer "Vereindeutigung des Wissensobjekts" Selbstmordattentat geführt hat (343). Dafür macht Brunner einen Forschungstrend verantwortlich, der zunehmend den Einzelfall zugunsten eines generalisierenden Blicks auf ganze Gesellschaften und Konfliktregionen vernachlässigte. Die Folgen dieser Perspektivverschiebung sind weitreichend und offenbaren eine regelrechte Kettenreaktion zwischen Terrorismusforschung, Politik bzw. Politikberatung und Öffentlichkeit. Die Nähe der Terrorismusforschung zu Politik und Politikberatung begünstigte die Übernahme einer "Bekämpfungsperspektive", die durch die Forschung zunehmend wissenschaftlich begründet und beglaubigt wurde. So entstand über die Konzeptionalisierung eines "Wissensobjekts Selbstmordattentat" als religiös, das heißt insbesondere "islamistisch" motivierte Tat und deren Verortung in einem anderen Kulturraum die Vorstellung von "regional begrenzte[r] Andersheit" (346). Deshalb diene das "Wissensobjekt Selbstmordattentat", so die Autorin, vor allem einer "okzidentalistischen Selbstvergewisserung" gegenüber dem als bedrohlich empfundenen Anderen. Die damit verbundenen hegemonialen Deutungs- und Normierungsansprüche des "Westens" äußern sich als epistemische Gewalt. Brunners Arbeit ist somit auch ein Plädoyer für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ganzen Komplexität von Gewalt, die über physische und strukturelle Gewalt hinausgeht.
Damit bietet die Studie zahlreiche Anknüpfungspunkte für die historische Terrorismusforschung: Die Gewordenheit von Wissen über das Phänomen Terrorismus, die Realität schaffende Kraft von Sprache und die Standortgebundenheit von Wissenschaft sind nur einige Felder, die es auch von Seiten der Historiker noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen lohnte. Als Kritikpunkt sei angemerkt, dass LeserInnen, die auf eine leichte Lektüre hoffen, bei diesem Buch manche Kröte zu schlucken haben. Lesen ist hier stellenweise harte Arbeit, bei der man sich durch komplexe Satzgebilde und Aneinanderreihungen von Wortungetümen kämpfen muss. Zum Ausgleich wird man mit einer gut durchdachten, die unterschiedlichen Stränge souverän zusammenhaltenden Argumentation belohnt, die dazu anregt, nicht nur die Terrorismusforschung, sondern auch die Prämissen des eigenen Forschens und (vermeintlichen) Wissens kritisch zu hinterfragen.
Anmerkungen:
[1] Exemplarisch Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006.
[2] Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011. Michael Butter u.a. (Hgg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte, Paderborn u.a. 2011.
[3] Exemplarisch Klaus Weinhauer u.a. (Hgg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. u.a. 2006.
Christine Friederich