Rezension über:

Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, München: C. Bertelsmann 2011, 763 S., 41 Farbabb., ISBN 978-3-570-10050-9, EUR 34,00
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Rezension von:
Sebastian Dörfler
Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Dörfler: Rezension von: Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, München: C. Bertelsmann 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/02/20569.html


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Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon

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"Die Geschichte, wie und weshalb Russland Napoleon besiegen konnte, auf (...) wahrhaftigere Weise neu zu erzählen" (9) ist das Ziel der Studie des Londoner Historikers Dominic Lieven. Der Experte für die Geschichte des russischen Kaiserreichs möchte das Defizit beheben, dass kein nichtrussischer Historiker "je ein Buch über Russlands Kriegsführung gegen Napoleon geschrieben" habe (10).

Diese Kritik ist berechtigt: Selbst neuere Darstellungen des Russlandfeldzuges von 1812 betrachten diesen einseitig aus französischer Sicht. [1] Auch hinsichtlich der Kämpfe in Deutschland und Frankreich 1813/14 unterblieb bislang eine spezielle Würdigung der russischen Leistung. Interessanter Weise zeigt Lieven auf, dass selbst russische und sowjetische Autoren die Ereignisse lange Zeit falsch wiedergaben. Die sowjetische Forschung hat danach ein völlig verzerrtes Bild des Zaren Alexanders I. gezeichnet, die Bedeutung des russischen "Volkskrieges" 1812 übertrieben und die russischen Leistungen in den Jahren 1813/14 ignoriert. Dem setzt Lieven bewusst eine Geschichte der "Könige und Schlachten" (22) entgegen.

Der Verfasser sieht folgerichtig im russischen Zaren die "zentrale Figur des antinapoleonischen Bündnisses". Sein "Charisma und diplomatisches Geschick" habe die Koalition mit Preußen und Österreich möglich gemacht und so die entscheidende Voraussetzung für den Sieg über Napoleon geschaffen (476). Dabei habe der Monarch sowohl idealistische Ziele als auch realpolitische Interessen seines Landes verfolgt (73). Der Korse sei ihm zu Recht als permanente Bedrohung von Russlands Status als unabhängiger Großmacht erschienen. Um diese Gefahr zu bannen, aber auch um Europa eine "Friedenregelung auf Dauer" (583) zu ermöglichen, habe Alexander den Krieg nach 1812 kompromisslos bis zum Sturz Napoleons weitergeführt. Ein Metternich hingegen hätte, so Lievens Einschätzung, als Anführer der Koalition Napoleon auf dem französischen Thron belassen und diesem die Chance gegeben, bei nächster Gelegenheit den Kontinent erneut mit Krieg zu überziehen (562).

Militärstrategisch hätten Alexander und sein Kriegsminister Barclay de Tolly "weiter gedacht" als Napoleon und dessen "Stärken und Schwächen" klar erkannt. Dies habe sie dazu bewegt, 1812 genau den Krieg zu führen, den der Gegner nicht wollte: "eine lang gezogene defensive Kampagne" (632). Die Strategie, sich ins Landesinnere zurückzuziehen, um "Napoleons Streitmacht zu zermürben" (189) sei voll aufgegangen: Die Invasoren hätten bei ihrem Vormarsch 1812 in kurzer Zeit auf Grund von logistischen Problemen große Verluste erlitten.

Neben dem Monarchen habe die russische Armee - nicht etwa der Widerstand "patriotischer Volksmassen", wie es die sowjetische Historiographie unterstellt habe (264f.) - entscheidend zum Sieg Russlands beigetragen. Die Streitkräfte seien eben kein "bewaffnetes Volk" gewesen, sondern eine verschworene Gemeinschaft, zusammengehalten von der "Treue der Altgedienten zu ihren Kameraden und Regimentern" (342). Lob für die Aktionen der russischen Kämpfer - etwa ihre "enorme Tapferkeit" in der Schlacht von Borodino (246) - durchzieht das ganze Buch. Im Gegenzug kritisiert Lieven französische und deutsche Darstellungen, welche die Leistungen von Alexanders Truppen systematisch schmälern würden.

Der besondere Beitrag der Soldaten des Zaren zum Sieg der antinapoleonischen Koalition sei jedoch nur dank einer großartigen Logistik möglich gewesen. Ausrüstung, Versorgung und Ergänzung der Streitkräfte widmet Lieven große Partien seines Werks. Er geht dabei bis in kleinste Details, der Leser erfährt z. B., dass "2900 Meter dunkelgrünes Tuch und fast 4500 Paar Stiefel" nötig gewesen seien, um ein Regiment einzukleiden (277). Eine logistische Meisterleistung sei es 1813 gewesen, massive Verstärkungen aus dem "russischen Kernland bis zu den Schlachtfeldern in Deutschland zu bringen" (395). Die Kommandeure der russischen Versorgungstrains während des Feldzugs in Frankreich 1814 rühmt Lieven schließlich als "ungenannte russische Helden dieses Krieges" (593).

Das Fazit des Autors lautet, dass keine "Aufstände nationalistischer Bewegungen" (350), sondern "das Ancien Régime Europas" den französischen Imperator "zu Fall brachte" (632). Dass der Verfasser dabei konsequent die russischen Leistungen hervorhebt und eindeutig mit dieser Macht sympathisiert, liegt in der Natur seines Blickwinkels. Mitunter wirkt Lievens Enthusiasmus für die Taten der Russen, die sich in seinem Buch immer wieder "mit Ruhm bedecken" (494) freilich etwas ermüdend, so berechtigt er auch sein mag. Völlig einseitig ist die Erzählung jedoch keineswegs. Wiederholt gewichtet der Autor Napoleons Fehler stärker als russische Leistungen, so habe der Korse etwa bei Smolensk 1812 oder bei Dresden 1813 einen möglichen Sieg durch eigenes Verschulden verpasst. Auch Fehler und Versäumnisse der russischen Seite räumt Lieven durchaus ein.

Lediglich die machtpolitischen Ziele des Zaren stellt der Verfasser arg wohlwollend dar. Seine These, Russland habe durch den Sieg über Napoleon das europäische Gleichgewicht wieder hergestellt und den Frieden auf dem Kontinent langfristig gesichert, ist keinesfalls haltlos, aber doch zu einseitig. Denn sie verharmlost den enormen Machtzuwachs des Zarenreiches selbst bis 1814. Durch den Sturz Napoleons schützte es auch die Früchte des eigenen Expansionismus' und errang seinerseits eine Vormachtstellung. Selbst der russische Historiker Troickij meint, Frankreichs Gegner Russland und Österreich seien lediglich "schwächere Räuber" gewesen, die sich gegen den "stärkeren" (also Napoleon) verbündet hätten. [2]

Lieven gibt prinzipiell zu, dass Russland ebenso "expansionistisch" und "räuberisch" (121) gewesen sei wie Napoleons Frankreich. Er rückt aber die russischen Eroberungen in dieser Epoche in ein sehr mildes Licht. So entsteht etwa der Eindruck, Napoleon habe Russland in den Krieg gegen Schweden 1808/09, der mit der Annexion Finnlands durch das Zarenreich endete, "hineinmanövriert" (93), also Alexander einen Eroberungskrieg fast schon aufgezwungen. Dass der Zar auf dem Wiener Kongress das Großherzogtum Warschau für Russland sicherte, erscheint als verdiente "Belohnung" für Russlands Opfer im Krieg gegen Frankreich (361).

Lievens Interpretation enthält somit nicht die ganze Wahrheit über die Jahre 1812-1814. Um dieser näher zu kommen, ist nach wie vor die Gegenüberstellung verschiedener Sichtweisen nötig. Lievens großes Verdienst ist es jedoch, mit seinem Buch die Vergleichsmöglichkeiten entscheidend erweitert zu haben. Seine russische Perspektive liefert den Kontrast, um Einseitigkeiten der französischen und deutschen Wahrnehmung sichtbar zu machen. Außerdem ist es für deutsche Leser eine erfrischende Erfahrung, wenn Gneisenau, Scharnhorst, Blücher, Freiherr vom Stein oder Metternich einmal nicht als entscheidende Akteure auftreten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. die Rezension zu Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau. Napoleon in Rußland. Frankfurt a. M.2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14986.html

[2] Vgl. N. A. Troickij: Aleksandr I i Napoleon. (Alexander I. und Napoleon) Moskau 1994, 100f.

Sebastian Dörfler