Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München: C.H.Beck 2010, 380 S., mit 7 Karten, ISBN 978-3-406-60159-0, EUR 26,95
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Die neuere spanische Geschichte hat in den vergangenen Jahrzehnten sehr konträre Deutungen erfahren. Bis in die 1980er Jahre hinein erschien der Mehrheit der Historiker die Entwicklung des Landes seit dem 18. Jahrhundert als europäischer Sonderfall. Eine blockierte Aufklärung, ein schwaches liberales Bürgertum sowie die anhaltende Macht der katholischen Kirche, des Militärs und einer kleinen Schicht von Großgrundbesitzern hätten eine ökonomische wie politische Modernisierung Spaniens verhindert und das Land von der europäischen Moderne abgeschnitten. Im Zuge der erfolgreichen Demokratisierung Spaniens nach dem Tod Francisco Francos 1975 und dem schnellen Zuwachs an Wohlstand ist diese Deutung in die Kritik geraten. Eine alternative Interpretation gewann an Einfluss, die die Modernisierungserfolge des Landes und die (west)europäische Normalität der spanischen Entwicklung neu betont hat. Die lesenswerte Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert von Walther Bernecker verbindet die beiden Deutungsperspektiven miteinander. Sie erzählt die Geschichte Spaniens als Geschichte einer lange verzögerten und heftig umkämpften, aber letztlich erfolgreichen Ankunft in der westlich-demokratischen Moderne. Kräfte des Fortschritts konnten nach 1900 die existierenden traditionellen Ordnungen zwar destabilisieren, sie bis 1975 jedoch nicht vollständig aus dem Weg schaffen.
Deutlich beeinflusst von der älteren Modernisierungstheorie Bielefelder Prägung bilden die Konflikte zwischen sozio-ökonomischer und politisch-kultureller Entwicklung den argumentativen Leitfaden der Darstellung. Bis 1939 prägte zunächst das Aufeinanderprallen einer raschen kulturellen Modernisierung und einer sich nur langsam auflösenden sozio-ökonomischen Rückständigkeit die Entwicklung des Landes. Nachdem Spanien durch den Verlust seiner letzten überseeischen Kolonien 1898 in eine tiefe kulturelle Krise gestürzt worden war, bildeten sich überall im Land Reformbewegungen, die neue, fortschrittliche politische und kulturelle Programme entwickelten, ohne jedoch einen Massenanhang gewinnen und das politische System der Restaurationsmonarchie grundlegend renovieren zu können. Die Rechtsdiktatur Miguel Primo de Riveras konnte die Modernisierungskrise in den 1920er Jahren nicht lösen, sondern verschärfte sie noch. Die Konflikte fanden in der Zweiten Republik (1931-1936/39) ihren Höhepunkt und bildeten die Grundlage des spanischen Bürgerkriegs, in dem sich ein heterogenes Bündnis von Modernisierern und die traditionalistisch orientierten Eliten gegenüberstanden.
Nach 1939 kehrte sich die gesellschaftliche Dynamik um. Nach langen Jahren der Stagnation und des Hungers im Rahmen einer fehlgeleiteten Politik der Autarkie modernisierte sich Spanien seit Ende der 1950er Jahre wirtschaftlich und sozial schnell, ohne dass es jedoch zu einem parallelen Wandel der politischen Kultur gekommen wäre. Der alternde Diktator Franco blockierte alle politischen Reformvorhaben. Das Regime zerbrach schließlich an dem Unvermögen, seine überkommenen politischen und kulturellen Normen und Werte mit dem raschen wirtschaftlichen und sozialen Wandel in Einklang zu bringen. Erst die Demokratie konnte nach turbulenten Anfangsjahren die gesellschaftlichen Spannungen der vergangenen Jahrzehnte auflösen und Spanien in den Kreis der westlichen Demokratien führen.
Bernecker erzählt die Geschichte der krisenreichen, aber letztendlich geglückten Modernisierung Spaniens so kenntnisreich wie pointiert. Sein Werk stellt die beste deutschsprachige Einführung in die Geschichte des iberischen Landes dar und ersetzt gleichzeitig die älteren Überblicksdarstellungen des Autors, auf denen das vorliegende Werk erkennbar und oft bis in die Kapitelgliederung und Wortwahl hinein aufbaut. Kenner der früheren Arbeiten von Bernecker werden im vorliegenden Band wenig neue Interpretationen finden, aber für den mit dem Gegenstand noch nicht vertrauten Leser bietet die vorliegende Darstellung eine glänzend geschriebene, klar gegliederte und äußerst informative Einführung, deren Stärken insbesondere im Bereich der politischen Sozialgeschichte liegen.
Zwei Aspekte trüben jedoch die unzweifelhaften Verdienste der Arbeit, die das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der spanischen Geschichte darstellt. Zunächst vermisst der interessierte Leser immer wieder eine Diskussion wichtiger neuerer Forschungsliteratur. In den Fußnoten und der Auswahl der erwähnten Literatur merkt man dem Werk seinen ursprünglichen Entstehungskontext in den mittleren 1980er Jahren immer wieder deutlich an. So findet etwa im Kapitel zur Zweiten Republik und zum Bürgerkrieg die großartige Darstellung des italienischen Historikers Gabriele Ranzato zum Spanien der 1930er Jahre ebenso wenig Erwähnung wie die streitbaren Schriften der britischen Forscherin Helen Graham oder des US-amerikanischen Historikers Michael Seidman. Auch eine Diskussion innovativer spanischer Lokalstudien, die in den vergangenen Jahren das Bild der Zweiten Republik und des Bürgerkrieges erweitert und differenziert haben, sucht man vergebens. Wer Interesse an einer vertieften Beschäftigung mit einzelnen Zeitabschnitten und Themen hat, wird nicht umhinkommen, weitere Einführungen und Überblickswerke zu konsultieren.
Eng damit verbunden vermisst der interessierte Leser auch eine explizite Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationsansätzen für eine Geschichte Spaniens und Europas im 20. Jahrhundert. Der modernisierungstheoretische Zugriff hat viele Vorteile, doch er weist auch Defizite auf wie etwa die einseitige Identifizierung der Begriffe der Moderne und Europas mit liberalen und demokratischen Konzepten. Eine explizite Debatte neuerer Interpretationsansätze, die die Vielfalt der Ausprägungsformen von Moderne und ihre Widersprüche betonen, hätte demgegenüber das Bild der spanischen Geschichte erweitern und es enger in den Kontext aktueller Debatten über den historischen Ort des 20. Jahrhunderts stellen können. Diese Überlegungen sollen jedoch nicht den Blick auf die großen Stärken des Buches verstellen, das eine intime Detailkenntnis mit der Fähigkeit zu einer großen Synthese auf eindrucksvolle Weise verbindet.
Till Kössler