Louis-Jaques Bataillon / Nicole Bériou / Gilbert Dahan u.a. (éds.): Étienne Langton, prédicateur, bibliste, théologien. Études réunies par (= Bibliothèque d'Histoire Culturelle Du Moyen Âge; 9), Turnhout: Brepols 2010, 694 S., einige Tabellen, ISBN 978-2-503-53519-7, EUR 95,00
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Lange Zeit wurde Stephen Langton von der Forschung vor dem Hintergrund seines politischen Wirkens, insbesondere seiner Beteiligung an der Abfassung der Magna Charta, beurteilt. Von Innocenz III. 1206 gegen den erklärten Willen von König Johann Ohneland zum Erzbischof von Canterbury ernannt, bis 1213 in der Zisterzienserabtei von Pontigny exiliert, gelang es ihm nach seiner Rückkehr nach England, eine vermittelnde Position zwischen König und rebellierenden Baronen einzunehmen und den Vertragsabschluss zu befördern - wie intensiv seine Mitwirkung an den einzelnen Artikeln der Magna Charta aber tatsächlich war, wird wohl niemals abschließend geklärt werden können. Langton war jedoch nicht allein ein homo politicus, sondern in sehr viel stärkerem Maße Theologe, Prediger und Bibelkommentator. Zusammen mit Petrus Comestor, Petrus Cantor und anderen stand er am Beginn einer neuen Theologie, durch die biblische Offenbarung mittels systematischer und methodisch reflektierter Interpretation erschlossen werden sollte. Davon zeugen mehr als 400 Disputationen, mehr als 500 Predigten und Kommentare zu nahezu allen 70 biblischen Büchern. Diese Facette seines Wirkens, von der historischen Zunft bisher eher "auch" zur Kenntnis genommen, steht im Mittelpunkt eines Bandes, in dem die Ergebnisse eines Kolloquiums präsentiert werden, das vom 13.-15.9. 2006 im Pariser Dominikanerkonvent abgehalten wurde. Insgesamt 21 Beiträge decken vier große Bereiche ab: 1. Das historische Wirken Langtons und dessen Rezeption, 2. Der Bibelexeget, 3. Der Prediger und 4. Der Theologe. Ein zeitlicher Schwerpunkt liegt auf Langtons Zeit in Paris, wo er nicht nur studierte, sondern auch unterrichtete. Und auch wenn er - nach allem, was wir wissen - wohl keine bedeutende Rolle in der konstituierenden Phase der Pariser Universität spielte, bereitete er mit seinem wissenschaftlichen Oeuvre dieser Wissenschaftsinstitution neuen Zuschnitts den Boden. Zwei umfangreiche einleitende Beiträge widmen sich der Vita Langtons. Während John W. Baldwin grosso modo die Zeit bis 1215 behandelt (Maître Étienne Langton, futur archevêque de Canterbury. Les écoles de Paris et la Magna Carta, 11-50), widmet sich Nicholas Vincent der Tätigkeit Langtons als Erzbischof (Stephen Langton, archbishop of Canterbury, 51-123). Baldwin analysiert, gestützt vor allem auf eine Predigt, die Langton am 25.8.1213 in St. Paul's, London, hielt, dessen Rechtsverständnis, das auch ungerecht agierende politische Autoritäten anerkannte, so lange diese nur auf der Grundlage rechtlicher Beschlüsse agierten. Diese eher konservative Ansicht katapultierte Langton nicht eben in die erste Reihe der originellen Vordenker. Überhaupt ziehen sich leise Zweifel an seiner Exzeptionalität wie ein roter Faden durch viele Aufsätze. Vincent ist wohl derjenige, der diesen Befund in die elegantesten Worte kleidet: "The Langton manuscripts are never likely to command, and indeed, in all honesty hardly deserve the sort of collective attention lavished upon those of such writers as Aquinas or Bonaventure."(62) Und Franco Morenzoni, der sich mit der Rolle von Pastoral und Ekklesiologie in Langtons Predigtwerk auseinandersetzt (Pastorale et ecclésiologie dans la prédication d'Étienne Langton, 449-466), urteilt - auf der Grundlage einer Vielzahl bisher unedierter und in den Fußnoten dankenswerterweise extensiv zitierter Predigten - gnadenloser. Ihm zufolge kann Langtons Beitrag zu einer pastoralen Erneuerung nur schwerlich "comme majeure" (466) angesehen werden. Innovationskraft und Originalität hatten ihre Grenzen - und dennoch wurde Langton von den Zeitgenossen gelesen. Beschäftigt sich Rainer Berndt mit der Rezeption Langtons durch die Victoriner (Étienne Langton et les victorins ou l'embarras des lacunes, 125-163), wirft Valeria de Fraja einen Blick auf die Überlieferung seiner Werke in den Bibliotheken der Zisterzienser (La ricezione delle opere di Stefano Langton nelle biblioteche cisterciensi, 165-197). Immerhin zählt das Pariser Kanonikerstift mit 26 Handschriften, dicht gefolgt von der Abtei Clairvaux mit 21 Handschriften, zu denjenigen mittelalterlichen Institutionen mit dem umfangreichsten Besitz an Opera Langtons. Wurde die breite Überlieferung, die sich wie in S. Victor vor allem auf Bibelkommentare bezog, bei den Zisterziensern bisher vor allen mit den langen Jahren des Exils des Erzbischofs in Pontigny erklärt, tritt De Fraja dieser Sichtweise nach einer minutiösen Auswertung der Bibliothekskataloge entschieden entgegen und liefert andere, weitaus überzeugendere Erklärungsmodelle. Ihr zufolge sind Personen wichtiger als Ordensinstitutionen: durch den späten Eintritt mit 18 Jahren hätten Personen, ausgebildet an Kathedralschulen oder durch freie Magister, persönlichen Buchbesitz in die Klöster mitgebracht, wo auch späterhin die Kontakte zur (proto-)universitären Welt nicht abgerissen seien.
Auf eine magistrale Überblicksdarstellung von Gilbert Dahan über die Charakteristika von Langtons Bibelexegese (Les commentaires bibliques d'Étienne Langton : Exégèse et herméneutique, 201-239) folgen einige Beiträge, die einzelne seiner Werke näher beleuchten. Vom Psalmenkommentar - ist er nur verloren, oder hat er niemals existiert? - über die Kommentare zu den Sprüchen Salomons, den Lamentationes oder den zwölf kleinen Propheten wird - mitunter allzu detailverliebt - in die Arbeitsweise Langtons eingeführt. Deutlich wird, dass in nahezu allen Fällen, die Angaben in Stegmüllers "Repertorium Biblicum" einer tiefgreifenden Revision bedürfen. Die Texte warten insgesamt sicherlich nicht mit atemberaubenden theologischen Neupositionierungen auf, sind aber als hervorragende Beispiele für eine "normale" Unterrichtstätigkeit an der Seine zu verstehen, wo Bibelkommentare gleichzeitig auch immer als Predigtschulen galten, in denen nicht zuletzt auf theoretischer Ebene über Predigt nachgedacht, unter sehr viel praktischeren Gesichtspunkten aber auch Material für angehende Prediger zusammengestellt wurde.
Herausragend ist der Beitrag von Claire Angotti über Langton als Kommentator der Sentenzen des Petrus Lombardus (Étienne Langton, commentateur des Sentences de Pierre Lombard, 487-523). Behandelt wird die Zeit zwischen der Publikation der Sentenzen durch Petrus Lombardus um 1150 und den großen scholastischen Kommentaren eines Thomas von Aquin oder Bonaventura in den 50-er Jahren des 13. Jahrhunderts. Langtons Kommentar, unikal überliefert und quantitativ äußerst überschaubar, wird als reportatio bzw. bloße Arbeitsskizze charakterisiert und auf die Jahre vor 1200 datiert. Die Autorin belegt, dass die Sentenzen von Langton niemals in den Rang einer "auctoritas" erhoben, sondern von ihm lediglich als wichtiger, in Teilen verbesserungswürdiger Unterrichtstext angesehen wurden. Langton beschäftigte sich also nicht mit ihnen aus einem Akt der Pflichterfüllung heraus, sondern weil sie ihm eine Zusammenstellung bereits klassifizierter theologischer Probleme an die Hand gaben, die es mittels neuer heuristischer Methoden zu entschlüsseln galt.
Der Band leistet dreierlei. In ihm wird erstens auf bisher in der historischen Forschung nur verhalten rezipierte Werke Langtons verwiesen, die ihrerseits in den Kontext der kurz zuvor bzw. zeitgleich entstandenen theologischen Opera eingeordnet werden. Es werden zweitens Forschungsdesiderate formuliert, denen es zukünftig nachzugehen gilt - Nicholas Vincents Aufforderung, den von Langton vertretenen libertas-Begriff umfassend zu untersuchen, ist dabei nur eines unter vielen. Schließlich besticht der Großteil der Beiträge durch ein äußerst quellennahes Arbeiten, das sich in einer Fülle an kleineren Editionen niederschlägt.
Langton mag zwar nach der Lektüre des Bandes etwas vom Nimbus des großen Staatsmannes und Politikers verloren haben - dieser Verlust wird durch den Gewinn an Einsicht in weitere, nicht minder wichtige Facetten seiner Persönlichkeit und seines Schaffens aber bei weitem ausgeglichen.
Ralf Lützelschwab