Verena Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen 1870-1919, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 557 S., ISBN 978-3-506-77166-7, EUR 69,00
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Es gibt zwei Wege, die Diplomatiegeschichte voranzubringen: durch neue Quellenfunde und durch eine gekonnte Verbindung der Kultur- mit der Politikgeschichte. Letzteres ist die Intention von Verena Stellers Dissertation über die deutsch-französischen Beziehungen von 1870-1919. Die Quellengrundlage ist hierbei naturgemäß ungleichgewichtig: Auf der einen Seite steht ihr eine umfangreiche politische Korrespondenz zur Verfügung, auf der anderen die sehr viel spärlicheren Protokollakten. Ein Grund für dieses Manko ist natürlich, dass es sich bei Diplomaten mehrheitlich um Adelige handelte, die das Protokoll aufgrund ihrer Sozialisation einfach nicht zu lesen brauchten. Sie folgten einem frühinternalisierten, unausgesprochenen Code.
"Unausgesprochenen Vorannahmen" zu decodieren ist eine der großen Herausforderung dieses Buches, und Steller stellt sich ihr mit Verve. Gleich zu Anfang zitiert sie den Doyen des diplomatischen Metiers, Harold Nicolson: "Human error is a constant, and not an incidental, factor in history." Nicolson hatte als aktiver Diplomat reichlich Gelegenheit, menschliches Versagen zu beobachten. Vor allem während der Pariser Friedensverhandlungen 1919 verzweifelte er ausgiebig am Verhalten seiner Kollegen. Es sind Zeitzeugen wie Nicolson, die Steller helfen, eine Diplomatiegeschichte mit menschlichen Anlitz zu schreiben, ohne sich in Diplomatenschicksalen zu verlieren.
Wie also veränderten sich das Repräsentieren und die Praktizierung von Diplomatie innerhalb dieses langen Untersuchungszeitraums? Stellers Fokus gilt vier großen Wendepunkten der französisch-deutschen Diplomatie: den Friedensanbahnungsprozessen mit Bismarck 1870-71; den französisch-russischen Allianzbemühungen; der Konferenzdiplomatie von 1899-1913 und am Ende der Pariser Friedenskonferenz. Steller ist sich dabei jedoch bewusst, dass nicht nur die großen Weltereignisse eine Institution verändern, sondern dass es auch in ruhigen, krisenfreien Perioden zu Umwälzungen kommen kann. Sie widmet daher auch den neuen technischen Herausforderungen, mit denen die Diplomaten konfrontiert wurden (vor allem den verkürzten Kommunikationswegen), breiten Raum.
Wie adaptionsfähig vor allem die französischen Diplomaten sein mussten, zeigte sich 1870. Die provisorische Republik befand sich in einer ungeheuren politischen Krise, aber auch in einer Repräsentationskrise, aus der sie erst langsam herausfand. Hier trifft der überstrapazierte Begriff der "Erfindung der Tradition" tatsächlich zu - die neuen republikanischen Statussymbole funktionierten am Ende, weil sie auch alte, vertraute Elemente aufnahmen.
Wie geschickt ausgerechnet die republikanischen Franzosen in ihrem Werben um das autokratische Russland ab 1890 agierten, zeigt Steller an einem Zwei-Phasen Modell - sobald die politischen Sondierungen in Phase eins Hoffnung auf ein erstes Rendezvous ergaben, entfalteten die Diplomaten in Phase zwei einen unendlichen Reigen von symbolischen Verführungsversuchen (mit Worten, Gesten, Geschenken etc.). Unermüdliche "Beziehungsarbeit" war hier ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg (d.h. die Franzosen beherrschten genau die Kunst, die Wilhelm II. fremd war).
Auch in ihrem Kapitel über Konferenzdiplomatie 1899-1913 gelingt es Steller, die Rituale, Zeremonien und Sprache der beteiligten Diplomaten gekonnt zu sezieren. Nur an den Stellen, wo die Quellen sie im Stich lassen, gerät sie in Gefahr, in Spekulation abzugleiten (z.B. ihre Interpretationsversuche über die französischen Gesichtsverletzten in Versailles 1919).
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde bekanntermaßen als Versagen der alten, orthodoxen Diplomatie gesehen. Unter dem öffentlichen Druck - "who needs diplomats?" - sollte 1919 die Geburt einer Neuen Diplomatie beschleunigt werden. Dass dies kaum möglich war, ahnten zeitgenössische Zyniker von Anfang an. Stattdessen kam es zu dem verhängnisvollen "Einzug der Ideologien in die Diplomatie" (Gordon Craig). Die Autorin behandelt bereits einen langen Zeitraum, und es wäre sicher anmaßend, von ihr auch noch einen Ausblick auf diese Entwicklung in der Zwischenkriegszeit zu verlangen. Doch hier könnte Stellers Ansatz mit Erfolg weitergeführt werden, denn die Herausforderungen der 1920er und 1930er Jahre veränderten auch die französische Diplomatie noch einmal fundamental.
Karina Urbach