Jörg Hackmann / Klaus Roth (Hgg.): Zivilgesellschaft im östlichen und südöstlichen Europa in Geschichte und Gegenwart (= Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa; 5), München: Oldenbourg 2011, 294 S., ISBN 978-3-486-70495-2, EUR 39,80
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Obgleich die Protestbewegungen und gesellschaftlichen Selbstorganisationen innerhalb der sozialistischen Staaten Osteuropas maßgeblich den wissenschaftlichen Diskurs über den Begriff der Zivilgesellschaft nach dem demokratischen Umbruch 1989 belebt haben, beherrscht bislang vor allem der "westliche" Raum die Theorie bildende Diskussion. Dies ist Grund genug, einen Tagungsband über Zivilgesellschaft im östlichen und südöstlichen Europa auch mit einiger zeitlicher Verzögerung - die Tagung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates fand bereits 2003 statt - herauszubringen. Doch es ist nicht nur das räumliche Spektrum, das hier anregende Aspekte in die Diskussion einbringt, sondern die Beiträge greifen zusätzlich auch einige Desiderate der bisherigen Forschungsdebatte auf. So wurde bisher oft bemängelt, dass in den gängigen theoretischen Ansätzen die Felder Wirtschaft und Religion entweder per definitionem ausgeschlossen oder nur am Rande betrachtet wurden. Diesen und weiteren Themenbereichen stellen sich die in dem vorliegenden Band zusammengestellten Abhandlungen für den osteuropäischen Raum in zeitlich übergreifender Perspektive.
Einleitend nehmen die Herausgeber die aktuelle Forschungsdiskussion auf und setzen sie in Bezug zu den spezifischen Strukturen der osteuropäischen Geschichte. Während Jörg Hackmann bei den zentralen Fragestellungen zur Analyse zivilgesellschaftlicher Entwicklung auf die Notwendigkeit hinweist, auch die Bereiche Familie, Religion und Geselligkeit zu berücksichtigen, stellt Klaus Roth in Frage, ob das westlich geprägte normative Konzept von Zivilgesellschaft die Lebenswirklichkeit gerade auch in Südosteuropa überhaupt zutreffen könne, zumal die gemeinhin angenommenen Voraussetzungen zivilgesellschaftlichen Handelns hier nur ansatzweise gegeben seien.
Dass andererseits die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen in manchen ostmitteleuropäischen Rechtsnormen nach 1989 auch als Stimulans für radikaldemokratische Kritik in Westeuropa dienen kann, zeigt Angelika Nußberger, die in ihrem Beitrag über Zivilgesellschaft als neues Konzept des Verfassungsrechts auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungen in Ostmitteleuropa (Reformen durch Runde Tische) und Osteuropa (Reform von oben) und die daraus resultierenden, divergierenden Kodierungen verweist. Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung in ihren Komponenten Planungssystem und Eigentumsordnung analysiert Karl von Delhaes für die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in den sozialistischen Systemen, wobei er letztlich historische Erfahrungen und Traditionen als wichtiger für das Handeln einschätzt als die materiellen Voraussetzungen.
Mit den historischen Voraussetzungen früher Formen zivilgesellschaftlichen Engagements beschäftigen sich dann auch die meisten Beiträge des Bandes in ganz unterschiedlichen Bereichen. So untersucht Hermann Beyer-Thoma die Aktivitäten der russischen Altgläubigen, die sich, religiös motiviert, von Staat und Staatskirche unabhängige, gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisationsstrukturen schufen, die oftmals die ursprünglichen Beweggründe überdauerten und zum Nährboden für nationalistische Vorstellungen wurden. Den Einfluss von Religion und insbesondere der Infrastrukturen der katholischen Kirche auf das Entstehen zivilgesellschaftlicher Organisationen untersucht Eligiusz Janus für das preußische Teilgebiet Polens im 19. Jahrhundert. Während einerseits die restriktive und auf Exklusion zielende Politik der Staatsmacht die zivile Selbstorganisation der polnischen Bevölkerung geradezu erzwungen habe, seien andererseits Ausmaß und Intensität der Organischen Arbeit (praca organiczna) ohne die Unterstützung durch die kirchlichen Strukturen nicht denkbar gewesen. Eine ganz andere Rolle des Staates beschreibt Harald Heppner für die Habsburgermonarchie. Er sieht ihn hier als Impulsgeber zivilgesellschaftlicher Ansätze, der auf diese Weise Wohlstand und Harmonie im polyethnischen Reich habe steuern wollen.
Für die böhmischen Länder weist Robert Luft auf eigenständige Traditionen ziviler Organisations- und Denkweisen hin, die bis in die Zeit der Aufklärung zurück- und bis in die Gegenwart hineinreichten, wobei die nationale Konkurrenz von Deutschen und Tschechen zur Bildung von Partialgesellschaften geführt, damit gleichzeitig aber auch eine hohe gesellschaftliche Mobilisierung gefördert habe. In ähnlicher Weise beschreibt Elena Mannová die Chancen und Begrenzungen des Potenzials von Vereinen in der Slowakei. Die Asynchronität der Nationalismen schuf hier unterschiedliche Voraussetzungen für Ungarn, Slowaken und Tschechen, die sich im Grad der Organisation deutlich feststellen lassen.
Einen interessanten Ansatz wählt Juliane Brandt, die die spezifische Struktur eines neu besiedelten ungarischen Marktfleckens nach der Rückeroberung vom Osmanischen Reich seit dem 18. Jahrhundert als "Voraussetzungsfeld der Entfaltung von Zusammenschlüssen" (231) betrachtet. Ethnisch und konfessionell gemischt, grenzte sich die Bevölkerung bereits siedlungstechnisch voneinander ab, Vereine und freiwillige Zusammenschlüsse entstanden vor allem berufsspezifisch entlang der konfessionellen und sprachlichen Trennlinien. Trotz übergreifender Herausforderungen änderte sich dies bis zum Ersten Weltkrieg nicht, wohl aber differenzierten sich die Vereine in sozialer Hinsicht aus. Bei der Suche nach den Anfängen zivilgesellschaftlichen Handelns wirft Gabriele Wolf einen Blick auf das selbst organisierte Theater als Bildungsinstitution im Bulgarien des 19. Jahrhunderts und sein Streben nach institutioneller Verankerung und staatlicher Anerkennung, während Claudia Weber die Rolle bulgarischer Veteranenverbände bei der Implementierung einer nationalen Erinnerungskultur nach 1878 untersucht, die den staatlichen Vorstellungen von einer fortschrittlichen europäischen Nation zuwiderlief und eine konkurrierende Gesellschaftsvision anbot. Wenn Weber hier von einer Polyvalenz der Analysekategorie Zivilgesellschaft spricht, die in der Interaktion unterschiedlicher Trägerschichten und Vermittlungsmedien zutage tritt, so ist dies nicht nur auf den Fall Bulgarien anzuwenden. Ihr Plädoyer für mehr Sensibilität gegenüber den diachronen und asymmetrischen Entwicklungen der europäischen Geschichte gilt für die historische Vielfalt des gesamten osteuropäischen Raumes im besonderen Maße.
Der vorliegende Band mit seinem breiten Spektrum unterschiedlichster Betrachtungen von Ungarn bis Russland und von Lettland bis Serbien bietet dazu anregende Ansätze. Wünschenswert wäre eine weitere Vertiefung der hier begonnenen Auseinandersetzungen mit den divergierenden zivilgesellschaftlichen Traditionen und ihren Kontinuitäten gerade auch in den sich ändernden Kontexten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Sabine Grabowski