Cornelia Oefelein / Rainer Oefelein: Pilgerspuren auf mittelalterlichen Glocken in Brandenburg, Berlin: BeBra Verlag 2012, 318 S., 516 Abb., ISBN 978-3-9372-3386-4, EUR 24,95
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Dass mittelalterliche Pilgerzeichen zum Schmuck von Glocken verwendet wurden und so als Abgüsse bis heute erhalten blieben, ist seit 1904 bekannt, als der Däne Frederick Uldall und der Thüringer Paul Liebeskind über solche Abgüsse auf Glocken zu publizieren begannen. Bereits 50 Jahre zuvor waren die ersten Pilgerzeichen als archäologische Fundstücke im Schlamm der Seine und anderer Flüsse aufgetaucht und hatten das Interesse kulturhistorisch interessierter Sammler auf sich gelenkt. Die Wiederentdeckung der seit dem 12. Jahrhundert an europäischen Pilgerkirchen massenhaft verkauften kleinformatigen Metallgüsse, die nach der Reformation verschwanden, hatte ein neues Fenster zur europäischen Wallfahrtskultur und zur privaten Bilderwelt des Mittelalters aufgestoßen.
Weil in Deutschland große archäologische Fundkomplexe von Pilgerzeichen bis vor kurzem fehlten, gaben hier die als Glockenabgüsse überlieferten Pilgerzeichen eine solidere Forschungsbasis ab. Allerdings blieb eine systematische Suche nach diesen Zeugnissen meist Stückwerk. Zwar gab die mit der Zwangsabgabe von Glocken als Rohstoffreserve für die deutsche Rüstungsindustrie im 2. Weltkrieg verbundene Dokumentation (später als "Deutsches Glockenarchiv" im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg archiviert), eine mögliche Basis für ein deutsches Glockeninventar, wie auch für systematische Pilgerzeichenforschungen ab. Faktisch blieben solche Projekte aber - von Einzelnen wie Kurt Köster oder Sigrid Thurm im Westen und von Heinrich Schuster oder Richard Heinzel im Osten mit viel Enthusiasmus betrieben - auf halbem Wege stecken.
Dies muss man im Auge haben, um das vorzustellende Buch angemessen zu beurteilen, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Pilgerzeichenüberlieferung auf den brandenburgischen Kirchenglocken zusammenfassend darzustellen. Grundlage ist das von Friedrich Wolff 1920 publizierte Glockeninventar der "Provinz Brandenburg": Alle von Wolff als mittelalterlich bezeichneten Kirchgenglocken wurden soweit möglich vor Ort untersucht (vgl. 18). Angesichts der Arbeitssituation des Autorenehepaars ist diese Entscheidung verständlich; offen bleibt aber so die Frage, ob Wolff tatsächlich alle einschlägigen Glocken erfasst hatte. Auch schließt die Orientierung an der "Provinz Brandenburg" zwei Gebiete aus, die für das spätmittelalterliche Brandenburg von Bedeutung sind: die Altmark und (Groß-) Berlin (allerdings wird 34f. ein Abguss in Berlin-Schmargendorf verzeichnet). Dennoch blieb mit 500 vor Ort zu besuchenden Glocken eine erhebliche Aufgabe zu bewältigen, bei der auf etwa jeder zehnten Glocke ein oder mehrere Zeichen gefunden wurden. Die Präsentation dieser Funde bildet den ersten Teil des Buches von ca. 120 Seiten Umfang, der in 37 Ortsartikel gegliedert ist. Diese beginnen mit knappen Bemerkungen zu Kirchenbau und Ausstattung, gelegentlich auch zur Ortsgeschichte. Es folgen Notizen zur Glocke und deren Abgüssen, wobei keine Glockeninventarisation angestrebt war und auch die Pilgerzeichen nur knapp (zumeist ohne Maßangaben) verzeichnet werden. Insgesamt werden 206 Abgüsse von Pilgerzeichen oder pilgerzeichenverdächtigen Objekten auf 57 Glocken beschrieben, was nach der Übersicht (291-295) ein Zuwachs von gut 140 Abgüssen gegenüber den bisher aus der Literatur bekannten ist.
Der zweite Hauptteil bietet auf etwa 100 Seiten die gesicherten und z.T. vermuteten Herkunftsorte der Pilgerzeichen in Form von 24 Steckbriefen der jeweiligen Wallfahrten samt einigen Bemerkungen zu deren Pilgerzeichen. Einige Zuweisungen wird man mit Fragezeichen versehen müssen: Die für Canterbury beanspruchten Zeichen (166) stammen wohl aus dem Schweriner Dom. [1] Der nach Lucca verwiesene Abguss auf der Schönberger Glocke (202) gehört zu einer Gruppe nur in Mittel- und Nordeuropa verbreiteter Kreuzzeichen. Dieser und die weiteren Abgüsse aus Köln und Aachen machen eine Datierung der Glocke in das dritte Viertel des 14. und nicht in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts (wie bisher behauptet) wahrscheinlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit den in Schönberg angebrachten Zeichen hätte exemplarisch die Bedeutung von Pilgerzeichen zur Datierung von Glocken ohne Angabe des Gussjahres zeigen können.
Die Marienzeichen auf S. 242 sind von den Zeichen aus Willershausen ikonografisch verschieden und zeigen vor allem kein Wappenschild mit Butte. Auch die probeweise Identifikation des Tangermünder Zeichens (228) und die für St. Josse-sur-Mer beanspruchten (53 und 71) sind diskussionswürdig. Angesichts der großen Zahl lokal nicht zugewiesener Zeichen (mit 95 Abgüssen fast die Hälfte des Materials!) wäre deren typologische Zusammenstellung sinnvoll gewesen, was leider unterblieb.
Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel "Die Wallfahrtswege der Brandenburger Pilger", das aus 15 Abbildungen historischer Landkarten und moderner Rekonstruktionen von Verkehrsrouten sowie knapp drei Seiten Text besteht und Fragen nach der markanten Verteilung der Pilgerzeichenfunde entlang bestimmter Wege in Brandenburg aufwirft und eine Westorientierung der spätmittelalterlichen Wallfahrtsbewegungen "in Richtung französischer Küste" (268) konstatiert. Letzteres verwundert angesichts der Dominanz des Pilgerdreiecks Aachen (Maastricht)-Köln-Trier im Spätmittelalter nicht.
Das Buch macht einen ambivalenten Eindruck, da es den Anspruch erhebt, einen originären Beitrag zur Pilgerzeichenforschung zu leisten, nach Anlage und Erzählduktus aber eher einen populären Einblick in das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen und dessen heutige Erforschung bezweckt. Dies wird durch das Layout verstärkt, was wohl der Verlag zu verantworten hat. Das Buch zeichnet sich durch eine üppige Bebilderung aus: Auf 141 Seiten werden 492 Abbildungen geboten, dazu kommen 18 meist ganzseitige Farbtafeln. Gezeigt werden Impressionen von Dorf- und Wallfahrtskirchen, historische Landkarten, Holzschnitte zu Heiligenkult und Pilgerleben, Reliquiare, Kultbilder und natürlich auch Pilgerzeichen und deren Abgüsse. Bei genauerem Hinsehen stellt man freilich fest, dass die Bilder sich häufig (z.T. vier- oder fünf Mal) wiederholen. Die Abbildungen der Pilgerzeichenabgüsse, der eigentliche Gegenstand des Buches, sind hingegen recht klein, oft unscharf und gerade bei den bisher nicht gedeuteten Zeichen häufig kaum zu erkennen.
Die Anlage des Buches verspricht interessierten Laien Einblicke in verschiedene Aspekte des spätmittelalterlichen Wallfahrtswesens aus dem Blickpunkt der Mark Brandenburg zu vermitteln. Auch die Pilgerzeichenforschung kann an den hier dokumentierten Funden nicht vorbeigehen und wird die beharrliche Rechercheleistung dankbar anerkennen müssen. Allerdings enthebt die mangelhafte Dokumentation gerade der nicht lokalisierten Zeichen künftige Forschungen nicht immer der Mühe, selbst auf die Kirchtürme zu steigen und sich ein eigenes Bild zu machen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Hartmut Kühne: Zur Konjunktur von Heilig-Blut-Wallfahrten im spätmittelalterlichen Mecklenburg, in: Mecklenburgia sacra 12 (2009) 76-115; Jörg Ansorge: Pilgerzeichen und Pilgerzeichenforschung in Mecklenburg-Vorpommern, in: Wallfahrer aus dem Osten. Mittelalterliche Pilgerzeichen zwischen Ostsee, Donau und Seine, hgg. von Hartmut Kühne / Lothar Lambacher / Jan Hrdina, Frankfurt a.M. u.a. 2012, 81-143, hier 90-92.
Hartmut Kühne