Michael Matheus / Arnold Nesselrath / Martin Wallraff (Hgg.): Martin Luther in Rom. Die Ewige Stadt als kosmopolitisches Zentrum und ihre Wahrnehmung (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 134), Berlin: De Gruyter 2017, XVII + 534 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-030906-5, EUR 109,95
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"Luther" und "Rom", das sind, wie Michael Matheus ausführt, im europäischen Geschichtsnarrativ zwei Antipoden, deren Aufeinandertreffen Forscher und Künstler gleichermaßen fasziniert hat und immer noch fasziniert (XIV). Aus Anlass des 500-jährigen Jahrestages von Luthers Romreise veranstaltete das Deutsche Historische Institut in Rom in Zusammenarbeit mit dem Melanchthon-Zentrum deshalb eine Tagung, die aus einer Vielzahl aktueller Ansätze der Romforschung eine zeitgemäße, vielschichtige Perspektive auf "Luthers Rom" entwerfen sollte.
Der nun vorliegende Sammelband gruppiert die Beiträge in fünf Abschnitte, die Luthers Romreise und -wahrnehmung, Rom als urbanes Zentrum, Papst und Kurie, Theologie und Frömmigkeit sowie schließlich Kunst, Kultur und Wissenschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Von dieser reichen Palette an Beiträgen können im Folgenden aus Platzgründen nur einige ausgewählte näher berücksichtigt werden.
Die Frage der Datierung von Luthers Romaufenthalt ist das zentrale Thema des ersten Abschnitts. Hans Schneider wiederholt und präzisiert in seinem Beitrag die These eines späteren Reisebeginns im Herbst 1511. [1] Ein Konflikt innerhalb des Augustinerordens um den Generalvikar Johann von Staupitz galt der älteren Forschung als äußerer Anlass für Luthers Romreise. Luther müsse also Teil der einzigen nachgewiesenen Delegation des Ordens gewesen sein, die erst 1511 nach Rom entsandt wurde.
Demgegenüber stellt Volker Leppin mit großer philologischer Sorgfalt heraus, dass die "causa contentionis Stauptii" als Reisegrund auf vergleichsweise schwachen Quellenbelegen beruht, und diskutiert, dass hinter dem "Schleier der Erinnerung" in Luthers späteren Schriften über Rom vielleicht weniger der Gesandte in Ordensangelegenheiten zu erkennen sei, als vielmehr der junge, vom Wunsch nach Buße getriebene Augustinermönch, der bereits 1509 aus eigenem Antrieb nach Rom pilgerte. Leppin bietet spannende Ansätze, Luthers Romerfahrung als frühneuzeitliche Konversionsgeschichte zu lesen.
Im zweiten Teil, der Rom als urbanes Zentrum behandelt, liefert unter anderem Arnold Esch eine lebendige Skizze des Campo Marzio, des Viertels zwischen den Augustinerklöstern, die Luther als Unterkunft gedient haben dürften, und zeichnet anhand der zahllosen Bauprojekte zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der steigenden Immobilienpreise und der internationalen Bevölkerung des Quartiers ein Bild von Rom als Boom-Town der Zeitenwende auf dem Sprung zur Metropole.
Auf die Schicht der "gentilhomini" als Besonderheit der römischen "nobilità bipartita" (151) geht Anna Modigliani ein und beschreibt das wechselhafte Verhältnis dieser städtischen Führungsschicht zum Papsthof, der von Nicht-Römern und ihren Protegés dominiert wurde. Seit der Porcari-Verschwörung 1453 konstatiert sie eine langsame Integration des römischen Stadtadels in den päpstlichen Hofstaat, unter anderem indem den "gentilhomini" exklusive Anrechte auf einen Teil der capitolinischen Ämter zugesichert wurden.
Mit der Kurie zu Beginn des 16. Jahrhundert befasst sich der dritte Abschnitt. Götz-Rüdiger Tewes bringt hier Licht in die schon von Zeitgenossen gefürchtete päpstliche (Finanz-)Verwaltung und zeigt, dass es den Fuggern zu Beginn des Reformationsjahrhunderts gelang - ähnlich wie die Medici/Salviati-Bank für Frankreich - die benefizienbezogenen Finanztransfers ins Reich durch ihre Finanzdienstleistungen effizienter zu gestalten. Besonders wichtig waren dabei geschulte Kontaktpersonen, die das Ohr zentraler Beamter am Papsthof besaßen - allen voran der mächtigen Datare -, ohne die man schnell an den Unwägbarkeiten des päpstlichen Hofes scheiterte oder wie es ein Ulmer Gesandter ausdrückte: "Dann so ich glaub ich hab min ding glich sicher, so wirdt es mir widerworfen" (172). Eindrücke, die, zurück in Deutschland, das Bild Roms nachhaltig geprägt haben dürften.
Einen ungewöhnlichen Akzent setzt in diesem Abschnitt Jörg Bölling, der das Papstzeremoniell unter Julius II. und dessen Nachfolger untersucht, um mögliche Eindrücke des späteren Reformators zu rekonstruieren. Dabei stößt er auf erstaunliche Parallelen zwischen Luthers späterem Verständnis der Messe und den Ansichten des päpstlichen Zeremonienmeisters Paris de Grassis.
Andreas Rehberg eröffnet den vierten Abschnitt zur Theologie und Frömmigkeit mit einem Überblick über die spezifischen Frömmigkeitspraktiken der Römer und kann nachvollziehbar Unterschiede zwischen den Einheimischen und den "Fremden", die in großer Zahl in die reliquienreiche Tibermetropole pilgerten, herausarbeiten. So war die Verehrung der Apostelfürsten bei den Einheimischen weniger ausgeprägt, und auch den Neubau der Petersbasilika unterstützten sie kaum (287-88). Die Frömmigkeit der Römer konzentrierte sich eher auf die bedeutenden Bruderschaften der Stadt wie die "Sancta Sanctorum" oder die "Gonfalone"-Gemeinschaft.
Mit dem "Libellus" von Quirini und Giustiniani und der "Oratio" von Giovanni Pico della Mirandola führt Laura Ronchi De Michelis in zwei Reformschriften aus dem Umkreis des Fünften Laterankonzils ein, die zeigen, dass auch in Rom zu Beginn des 16. Jahrhunderts Missstände in der Kirche zum Teil scharf kritisiert wurden und eine Reform "an Leib und Gliedern" als unaufschiebbar galt. Dass diese Texte nicht ihr Publikum fanden und "akademische Übungen" (328) blieben, ist bekannt. Leo X. beendete das Konzil 1517, ohne konkrete Reformen einzuleiten.
Anhand einer Namensliste möglicher Spender aus dem Archiv der deutschen Bruderschaft von S. Maria dell'Anima, in der die Leiter der Gemeinschaft die erwarteten Gelder für den Kirchenneubau taxierten, skizziert Michael Matheus ein Netzwerk "deutscher" Kurialen, die als Förderer von Kunst und Literatur im Rom der Renaissance in Erscheinung traten (V. Abschnitt). Der Luxemburger Johannes Goritz, der über Jahre hinweg verschiedene Ämter am Papsthof innehatte, war Mittelpunkt einer nach ihm benannten Gemeinschaft von Gelehrten und Literaten ("Academia Coryciana"). Der einflussreiche Kardinal Wilhelm van Enckenvoirt zeichnet nicht nur für sein eigenes Gedächtnis in der Animakirche verantwortlich, sondern war auch für das aufwändige Grabmal Papst Adrians VI. dort verantwortlich.
Von den zahlreichen weiteren Beiträgen zur Kultur, Kunst und Wissenschaft seien exemplarisch noch Sabine Meines Ausführungen über das römische Musikleben jenseits der Kurie erwähnt, die das aufblühende Musikleben unter dem Vorzeichen des Humanismus untersucht und besonders auf die Frottolen, raffinierte Liebeslieder, die vor allem bei römischen Kurtisanen beliebt gewesen zu sein scheinen, eingeht.
Trotz der großen Vielfalt der Beiträge ließen sich gewisse Wiederholungen nicht vermeiden und hie und da haben sich mit Begriffen wie "Kirchenspaltung" und "Gegenreformation" Termini der älteren Forschung eingeschlichen, was jedoch den positiven Gesamteindruck des Bandes in keiner Weise schmälert. Die Mehrheit der Autoren hat zudem den Reformator nicht aus dem Blickfeld ihrer Beiträge verloren und stellt explizit Verbindungen zu dessen Romaufenthalt her, so dass der erste "Antagonist" des Titels nicht zugunsten einer reinen Stadtgeschichte verloren geht. Der Band bietet einen facettenreichen und wirklich disziplinübergreifenden Überblick über die aktuelle Romforschung. Die Bauten der Stadt, ihre Kunst, ihre Kultur, die Frömmigkeit der Römer und die Netzwerke der Kurie verbinden sich zu einem Bild der Tiberstadt in einer Phase des Aufbruchs, das Luthers eindringliches Erleben der Ewigen Stadt verständlich macht.
Anmerkung:
[1] Vgl. Hans Schneider: Martin Luthers Reise nach Rom - neu datiert und neu gedeutet, in: Studien zur Wissenschafts- und Religionsgeschichte, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 2011 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. N. F.; 10,2), 1-157.
Moritz Schönleben