Rezension über:

Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus (= Text und Kontext; Bd. 33), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 332 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-10250-6, EUR 54,00
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Rezension von:
Hanns-Peter Neumann
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Hanns-Peter Neumann: Rezension von: Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/22287.html


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Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog

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Obwohl in der neueren Forschungsliteratur mittlerweile der dem Humanismus-Konzept des späten 18. und des 19. Jahrhunderts geschuldete Topos von der radikalen Epochenschwelle zwischen 'rückwärtsgewandter' mittelalterlicher Scholastik und (vor)aufgeklärt 'modernem' Renaissancehumanismus zugunsten einer kritischeren und differenzierteren Sicht revidiert worden ist, deckt die Romanistin und Literaturwissenschaftlerin Anita Traninger in ihrer beeindruckenden Studie zum frühneuzeitlichen Wandel der Gattungen 'Disputation', 'Deklamation' und 'Dialog' gekonnt Forschungsresiduen auf, in denen sich, zumindest der Tendenz nach, Reste der alten dogmatisch resp. ideologisch interessierten Dichotomie zwischen Scholastik und Humanismus erhalten haben. Die Autorin weist zurecht darauf hin - und bereits dieser Hinweis beweist ihren politisch geschulten Blick auf kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Phänomene -, dass vor allem die Aufteilung fachdisziplinärer Kompetenzen (Mediävistik - Renaissanceforschung; mittelalterliche Dialektik - frühneuzeitliche Rhetorik; mittelalterlicher Monolog - humanistischer Dialog) für die Aufrechterhaltung jener Dichotomien verantwortlich zu machen sind, die der Logik von Epochenschwellen generell zugrunde liegen. [1] Kaum eine andere "Binärcodierung" (10) ist davon jedoch mehr betroffen als die scheinbar so klare Opposition zwischen Dialektik und Rhetorik. Gerade darum erscheint sie besonders geeignet, die disziplinär immer noch kontrovers gewertete Trennlinie zwischen Scholastik und Renaissance zu unterwandern und zu dekonstruieren.

Rhetorik und Dialektik waren, so Traninger, nämlich weniger dogmatisch fixiert und durch einen vermeintlichen Epochenbruch strikt einander entgegengesetzt als gemeinhin angenommen wird. Vielmehr sind sie "gleichermaßen" (11; und auf dieses 'gleichermaßen' kommt es an!) mediale Gattungen gewesen, in denen "Aussagen" erzeugt und in Konkurrenz zueinander gestellt wurden. Als solche waren sie freilich nicht frei von Wandel und wissenspolitischen Rekonfigurationen, sondern repräsentieren "aussagengenerierende Methoden und universitäre Disziplinen [...], die in der Renaissance einem Aushandlungsprozess unterworfen werden [...]." (13) Dieser Aushandlungsprozess meint nun aber nicht, dass die Medien, in denen sich die 'scholastisch' organisierten Universitäten organisierten, von den Humanisten extinguiert worden wären; er meint, dass sie in polemischer Auseinandersetzung umkämpft, neu besetzt, epistemologisch reorganisiert (160) und zu einem "funktional komplementären Diskursmodell" (174) ausgeformt wurden. Dabei ging es nicht in erster Linie um Lehrinhalte, sondern um den diskursiven Wandel in der Indienstnahme medialer Techniken auf methodischer Ebene (43).

Traninger beschreibt diesen Aushandlungsprozess anhand stringent diskutierter Beispiele in insgesamt drei von fünf Kapiteln, wobei das erste Kapitel in Methodik und Forschungsstand einleitet, das fünfte eine Zusammenfassung der Ergebnisse offeriert. Verklammert werden die zentralen Kapitel 2 bis 4 durch die von der Verfasserin zugrunde gelegte These vom "humanistischen Vertextungsmodus der oratio continua" (15), letztere war vor allem für universitäre Verfahrenstechniken wie die Disputation charakteristisch, in denen auch die akademisch ausgebildeten Humanisten geschult waren.

Das zweite Kapitel bietet eine erfrischende Relektüre des Briefwechsels zwischen Giovanni Pico della Mirandola und Ermolao Barbaro, die nicht nur Barbaros Rolle anders als bislang üblich, da der Fokus allzu einseitig auf Pico gelegt worden war, ernst nimmt, sondern auch in einer prägnant und kenntnisreich kontextualisierten Deskription der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Dialektik im Quattrocento mündet. Hierbei wird deutlich, dass die Rede von der strikten Abgrenzung zwischen (mittelalterlicher) Dialektik und (humanistischer) Rhetorik ein Mythos ist, der sich nicht länger aufrechterhalten lässt und der unseligen Vermengung historischer und systematischer Begriffe geschuldet ist (168).

Dagegen lenkt Traninger den Blick auf die Fusion oder die Hybridisierung zweier Diskursmodi, die im Kontext der grundsätzlichen Agonalität der Gelehrtenkultur (20) "die besseren Waffen an die Hand gibt." (102) Die Dialektik wurde dann im humanistischen Diskurs aus der mündlichen Praxis akademischer Verfahren herausgelöst und zu einem hermeneutisch-textananlytischen Instrument umfunktionalisiert (109, 190).

Im dritten, umfangreichsten Kapitel fokussiert Traninger, u.a. am Beispiel des Disputs um Erasmus' Encomium Moriae, die sich herausschälende Komplementärstellung der Deklamation zur Disputation. Weit ausholend, im Rekurs auf zahlreiche Adaptationen, die bei der gattungspoetischen Rekonfiguration der Deklamation in der frühen Neuzeit eine Rolle spielten, zeigt die Autorin, wie im Zuge des humanistischen Vertextungsmodus Mündlichkeit fiktionalisiert und die Deklamation der "Gattung des theoretischen Diskurses" (120) eingemeindet worden ist, ohne deswegen im Schulbetrieb der Universitäten ihre orale Funktionalität zu verlieren.

Das vierte Kapitel schließlich macht deutlich, dass in der frühen Neuzeit eine der Ausgestaltung der Deklamation ähnliche Funktionserweiterung des Dialogs stattgefunden hat, der aus der disputativen Redeform der Universitäten in eine schriftliche, ihn nicht länger authentisch protokollierende, sondern fiktionalisierende Gattung textueller Gelehrtendiskurse überführt worden ist. Ungeachtet der Tatsache, dass die akademische "Organisationsform von Disputationen [...] in ganz Europa mit nur geringfügigen lokalen Modifikationen über Jahrhunderte - und auch über den Epochenbruch zwischen Mittelalter und Renaissance hinweg bis, in Teilen Europas, zum späten 17. und frühen 18. Jahrhundert - mehr oder weniger konstant dieselbe" (242) blieb, hat sich in Auseinandersetzung mit ihr eine neue Gattung, der Renaissancedialog, herausgebildet. Traninger beschreibt das Überschreiben der scholastischen Disputation durch den Renaissancedialog als "inszenierte Mündlichkeit", die einer "lebendigen oralen Praxis entgegengesetzt" wurde, um das akademische Monopol der Wissensvermittlung, -verhandlung und -generierung zu durchbrechen und zu pluralisieren (263). Mit dem anschließenden kurzen Rekurs auf Rabelais' und Vadians Verspottung akademischer Disputationspraxis untermauert die Autorin zugleich ihre (weiterführende) These, dass sich mit dem Humanismus der frühen Neuzeit die "Dominanz der Schriftlichkeit" so weit aufbaut, dass die ursprüngliche orale Form der Disputation an den Universitäten samt ihrer dialektischen Methodik langfristig "ihre eigene 'Stimme' im Sinn einer disziplinenspezifischen Diktion verliert und auf die unausgesprochene Konzeptionsebene von Texten verbannt wird." (276)

Fazit: Traninger ist mit ihrer Studie eine überzeugende, mitunter sogar aufregende, erfreulich quellennahe, konsequent historisierende und sehr gut lesbare Neudeskription der fließenden Epochenschwelle zwischen Scholastik und Humanismus gelungen, die die Autorin auf der Ebene wissenspolitischer Rekonfigurationen und Pluralisierungen medialer Gattungen und Methoden verhandelt.


Anmerkung:

[1] Christian Kiening: Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45 (2002), 264-277.

Hanns-Peter Neumann