Melvyn P. Leffler / Jeffrey W. Legro (eds.): In Uncertain Times. American Foreign Policy after the Berlin Wall and 9/11, Ithaca / London: Cornell University Press 2011, XII + 243 S., ISBN 978-0-8014-7619-8, GBP 12,50
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Führen historische Umbrüche zu neuem Denken? Eher nicht, wenn man dem Tenor der meisten Beiträge dieses Bandes folgt. Die beiden Herausgeber lehren am renommierten Miller Center for Public Affairs der University of Virginia. Sie sind herausragende Experten für die Geschichte und Gegenwart der internationalen Beziehungen der USA und sie verstehen etwas von der Sache. Sie haben eine Gruppe ehemaliger wichtiger Entscheidungsträger aus den beiden Bush-Administrationen sowie der Clinton-Administration (Robert B. Zoellick, Paul Wolfowitz, Eric S. Edelman, Walter B. Slocombe und Philip Zelikow) mit erstklassigen Historikern und Politikwissenschaftlern der US-Außenpolitik (Mary Elise Sarotte, John Mueller, Bruce Cumings, Odd Arne Westad, William C. Wohlforth) unter der Fragestellung zusammen gebracht, wie sich zwei dramatische historische Ereignisse der jüngsten Zeit - der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und die Angriffe des 11. September 2001 - auf das strategische Denken und die strategische Planung der US-Regierung ausgewirkt haben, wie diese Ereignisse die Visionen der sicherheitspolitischen Community der USA beeinflusst haben und welche Faktoren zum Erfolg oder Misserfolg der Planspiele und des strategischen Denkens beigetragen haben.
Als wenig überraschende Quintessenz der zehn dankenswert konzisen Beiträge lässt sich festhalten, dass Wissenschaftler und Entscheidungsträger zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen der jeweiligen Handlungsspielräume und der tatsächlichen Möglichkeit neigen, in Krisenzeiten zu strategischem (Um)denken zu kommen. William C. Wohlforths interessanter Beitrag lässt dabei aufhorchen: Denn während die Akteure mit der Stange im Nebel stochern, wenig Zeit für strategisches Nachdenken haben und sich dennoch hinterher für ihre Kurzsichtigkeit kritisieren lassen müssen, liegen die Experten mindestens ebenso oft falsch wie die Politiker. Expertenwissen, so Wohlforth, ist in "normalen" Zeiten hilfreich. In unerwarteten Krisen versagt es regelmäßig. Dem "besserwissenden" Experten gibt er daher den Rat: "Look in the mirror. We do not perform brilliantly ourselves under the best of circumstances, and dramatic, paradigm altering events may bring forth the very cognitive styles most likely to lead us astray" (178). Doch müssten nicht auch ehemalige politische Macher diesen Rat beherzigen? Anders als Wissenschaftler, diesen Eindruck hinterlassen die hier abgedruckten Beiträge, neigen sie eher nicht zu selbstkritischer Reflexion. Vielmehr setzen sie sich routiniert gegen retrospektive Vorwürfe zur Wehr, wichtige Chancen seien verpasst worden.
Durchgängig sichtbar wird die Historizität politischer Entscheidungen. Strategische Visionen basieren auf Fortschreibungen des Vergangenen. Dabei lassen sich Akteure oft gezielt von "historischen Erfahrungen" leiten, worauf der Historiker Odd Arne Westad verweist: Sei es auf institutioneller Ebene (wie 1989 mit der von dem älteren Bush bewusst angestrebten Fortführung der NATO), sei es auf der Ebene politischer Ziele wie das gescheiterte "nation building" in Afghanistan und Irak demonstriert. Hier habe der jüngere Bush die beiden schlechtmöglichsten Orte für eine Wiederholung der Politik der Demokratisierung Europas nach 1945 gewählt. Bruce Cummings, ein führender Historiker Koreas und des Koreakrieges sowie ein begnadeter Kritiker, wiederum zählt genüsslich die seit 1990 immer wieder aufgestellten falschen Prognosen von politischen Entscheidungsträgern und publizistischen "pundits" auf. Diese hätten der nordkoreanischen kommunistischen Kim-Dynastie routiniert eine Überlebenschance von wenigen Monaten bis wenigen Jahren eingeräumt. Fromme Wünsche, falsche Annahmen, überholte Ideen vom Kommunismus sowjetischer Prägung, von lokaler Kenntnis möglichst wenig getrübte, illusionäre Metaphern hätten eine realistische Einschätzung der Lage vor Ort verhindert.
Während die Historikerin Mary Elise Sarotte eloquent bedauert, dass der momentane Einschnitt ("punctutational moment", 14) 1989/90 nicht zu einem grundlegenden Wandel im strategischen Denken geführt und keine Grundüberholung der institutionellen Sicherheitsarchitektur des Westens mit sich gebracht habe, hält der Wissenschaftler und Entscheidungsträger Philip Zelikow dagegen, dass die Administration des älteren Bush (Bush 41, nach der laufenden Nummer der Präsidentschaft) nur deshalb revolutionär agieren konnte, weil der Paradigmenwechsel in Bezug auf das wiedervereinigte Deutschland in einem vertrauten institutionellen Rahmens durchgesetzt wurde. Denn alle Szenarien, die vor 1989 für das Ende des Kalten Krieges angedacht worden seien, hätten ein in der einen oder anderen Form neutralisiertes Deutschland vorausgesehen, nicht eine fortlaufende Integration der "Zentralmacht Europas" in das westliche Bündnis. Bush 43 hingegen habe zu radikal neuen Mitteln gegriffen, aber letztlich traditionelle sicherheitspolitische Ziele der USA verfolgt. Die Politik des jüngeren Bush sei in ihren Methoden revolutionär gewesen, von ihren Zielsetzungen her aber konventionell. Diese argumentative Zuspitzung, die zu den spannenderen Thesen des Bandes gehört, hat eine Menge für sich, müsste aber noch weiter ausgeführt werden.
Leider gehen die meisten Beiträge nicht konsequent der zentralen Frage nach den Folgen historischer Umbrüche für das strategische Denken nach. Detailliert wird die Genese und Implementierung einer neuen Verteidigungsplanung (der Defense Planning Guidance von 1992) durch Eric Edelman und Paul Wolfowitz diskutiert, doch ohne weitergehenden systematischen Anspruch und letztlich mit Blick auf das Erstgeburtsrecht. Das Systematisieren bleibt den Herausgebern überlassen, die im Schlusskapitel einen Katalog von Faktoren zusammenstellen, weshalb es in historischen Umbruchsituationen meist nicht zu strategischem Umdenken kommt: Kurzsichtigkeit (ein politisches Erzübel aus der Sicht fast aller Wissenschaftler), falsche Grundannahmen, die Priorität der Innenpolitik, bürokratische Kämpfe, systematische Verzerrungen aufgrund fehlerhafter institutioneller Arrangements. Die Ausgangsfrage wird daher negativ beantwortet. Kein schönes Resultat, weshalb sich die Herausgeber am Ende in Allgemeinplätze retten: Die USA hätten es auch künftig mit einer unsicheren und komplexen Weltlage zu tun. Wissen über die Vergangenheit - welcher Historiker kann hier widersprechen - könne den Weg in die Zukunft erhellen. Das klingt zu banal angesichts der realen Folgen, die eine auf falschen Prämissen beruhende Politik einer Weltmacht haben kann. Auch wirkt die wohlfeile Forderung, es wäre hilfreich, sich die strategische Zukunftsplanung anderer Nationen vergleichend anzusehen, nachgeschoben. Als erster Anriss der Frage nach der Formulierung strategischer Entscheidungen in der Politik lässt sich der Band empfehlen, nicht jedoch als ein Überblick über die US-Außenpolitik zwischen Mauerfall und 11. September.
Philipp Gassert