Rezension über:

Bernhard Diestelkamp: Ein Kampf um Freiheit und Recht. Die prozessualen Auseinandersetzungen der Gemeinde Freienseen mit den Grafen zu Solms-Laubach, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, X + 360 S., ISBN 978-3-412-20841-7, EUR 39,90
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Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 26), Konstanz: UVK 2012, 316 S., ISBN 978-3-86764-397-9, EUR 39,00
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Rezension von:
Robert Riemer
Historisches Institut, Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Robert Riemer: Detailstudien zur Arbeit des Reichskammergerichts (Rezension), in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/22546.html


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Detailstudien zur Arbeit des Reichskammergerichts

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Die Rechtsgeschichte ist als Teilgebiet der historischen Forschung seit Jahrzehnten auch wegen der umfangreichen Forschungen Bernhard Diestelkamps zur höchsten Reichsgerichtsbarkeit präsent. Dass diese immer noch vielfältige Untersuchungsmöglichkeiten bietet, zeigen die zwei hier vorzustellenden Werke der Autoren Diestelkamp und Bähr. Sie beinhalten jeweils Detailstudien über am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar verhandelte Fälle und ordnen sich damit in die lange Reihe verschiedener Veröffentlichungen zur Arbeit des Reichskammergerichts ein (nicht zuletzt die "Grüne Reihe" der Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in der aktuell von Diestelkamp Band 64 "Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter" angekündigt ist). Was trotz der vielfältigen Veröffentlichungen immer noch fehlt, ist eine neue Gesamtgeschichte des Reichskammergerichts, die die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte bündelt - Rudolf Smends Monografie zum Reichskammergericht ist inzwischen über ein Jahrhundert alt.

Beide Studien greifen Untertanenprozesse auf, die jeweils auf Erhalt oder Erwerb von Freiheiten gerichtet waren. Diestelkamp untersucht das Bemühen der Gemeinde Freienseen, ihre - angebliche - Reichsunmittelbarkeit (Reichsdorf) gegenüber den benachbarten Grafen zu Solms-Laubach durchzusetzen. Bähr betrachtet davon abweichend an drei Beispielen Argumentationsstrategien verschiedener bäuerlicher Gemeinden gegenüber der jeweiligen Obrigkeit vor Gericht, wobei auffällt, dass die Erlangung eines endgültigen Urteils nicht zwingend das Ziel der Untertanen war.

Diestelkamp untersucht für einen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Jahrhunderten (etwa 1550 bis ins frühe 19. Jahrhundert) - also über mehrere Generationen hinweg - die am Reichskammergericht geführten Auseinandersetzungen um die Reichsunmittelbarkeit der Freienseener, die sich damit den Herrschaftsansprüchen der Grafen zu Solms-Laubach entziehen wollten und nur den König bzw. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches als Schirmherrn akzeptierten. In insgesamt 20 Kapiteln zeichnet der Autor die teilweise parallel verlaufenden Prozesse nach und entwirrt diese für den Leser unter Hinweis auf die von den Freienseenern "als unrechtmäßig empfundene[n] Lasten" (1). Insgesamt 48 Verfahren liefen im Untersuchungszeitraum ab, wobei neben dem Reichskammergericht auch der Reichshofrat und Visitationskommissionen bemüht wurden. Grundsätzlich sei die Untertänigkeit der Gemeinde unumstritten gewesen, doch die Frage steht im Raum, warum die Freienseener dennoch auf ihrer (angeblichen) Reichsunmittelbarkeit beharrten (4). Eine Erklärung dafür ist, dass es auch zwischen den Grafen zu Solms und den Landgrafen von Hessen sowie zwischen den verschiedenen Grafen zu Solms konfessionelle Differenzen gab, denen sich die Freienseener entziehen wollen (5f.).

Die Rolle, die das Reichskammergericht bei den Auseinandersetzungen trotz eines 1555 an die Freienseener verliehenen kaiserlichen Schutz- und Schirmbriefes spielte, lässt sich relativ einfach beschreiben: Es geht um den Versuch der Befriedung von Konflikten über den Gerichtsweg (Frieden durch Recht), wobei vom Gericht nicht unbedingt ein abschließendes Urteil erwartet wurde (welches aufgrund fehlender gerichtseigener Exekutionsmöglichkeiten eventuell auch nur auf dem Umweg über die Reichskreise oder Territorien durchsetzbar gewesen wäre), sondern eine grundsätzliche Vermittlung zwischen den Parteien, also eine Mediation, die im Idealfall zu einer Streitbeilegung und Einigung zwischen den Parteien ohne ein endgültiges Urteil des Gerichts führt. Hierauf wird auch mehrfach im Kontext der Untersuchung hingewiesen (zum Beispiel 69-71).

Zwei Besonderheiten fallen auf, einerseits die in dieser Zeit übliche enge Verquickung von Religion und Politik, die sich auch vor Gericht nicht überwinden ließ (zum Beispiel Kapitel 8.3, 84-90), und andererseits die hohe finanzielle Belastung der Gemeinde aufgrund der andauernden Prozesse gegen die Herrschaft, wodurch "der Vermögenszustand der Gemeinde [...] so zerrüttet [sei], dass sie nicht mehr wie bisher die zur Erhaltung ihrer Freiheiten notwendigen Summen aufbringen könne" (281). Unklar bleiben dem Leser dagegen die tatsächlichen Beweggründe für die Beharrlichkeit, mit der die Freienseener trotz verschiedener Rückschläge die Prozesse weitertrieben; zumindest fehlen Hinweise auf möglicherweise ähnlich gelagerte Untertanenprozesse in der Nachbarschaft, die vielleicht motivierend wirkten, indem hier ein für die Untertanen positives Ergebnis vor Gericht erzielt werden konnte. Unverständlich für den im Gegensatz zum Autor weniger mit der Materie vertrauten Leser ist sicherlich das Fehlen eines Literaturverzeichnisses und vor allem auch von Hinweisen auf aktuelle Forschungen zu einzelnen Kapiteln des Buches (etwa in Kapitel 9.1, 109-124, wo die Folgen der Konfessionalisierung seitens der Grafen zu Solms angesprochen werden) - die Angaben in den Fußnoten beschränken sich fast ausnahmslos auf die genutzten Archivalien.

Abgesehen von diesen Schwächen handelt es sich um ein gut lesbares, spannendes Buch, welches eine hervorragende Basis für weitere rechtsgeschichtliche Forschungen liefert, sei es am Beispiel der verschiedenen Familienzweige der Grafen zu Solms oder auch für andere Untertanenprozesse im Reich, die gegen die jeweiligen Herrschaften geführt wurden.

Bähr grenzt seinen Untersuchungszeitraum auf die Jahre ein, in denen das Reichskammergericht in Wetzlar tätig war (1693-1806) (35). Anhand dreier Beispiele (Kapitel II.-IV.; "Die Hand des Kaisers: Das verschollene Szepter der Berkacher Bauern [1698-1702]", "Der Stahlberg und die armen Witwen: 'Gerechte Nahrung' in Nassau-Siegen [1724-1733]", "In Stein geschrieben: Streit um die Esthaler Allmende [1786-1796]"), die sich über das 18. Jahrhundert verteilen, zeigt der Autor Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden in Untertanenprozessen am Reichskammergericht - dem "neue[n] Schauplatz außeralltäglicher bäuerlicher Widerständigkeit" - auf (12, 17). Hier fällt noch stärker als bei Diestelkamp die für ein Gericht scheinbar ungewöhnliche Rolle als "Mediator" bzw. "dritte Kraft" auf, die "den Konfliktgegner disziplinieren und zu einer außergerichtlichen Konfliktlösung anhalten" sollte (19, 282). Anders gesagt, sollte mit dem in Aussicht stehenden Prozess und einem hoffentlich für den Prozessgegner negativen Urteil eine Drohkulisse aufgebaut werden, um einen Schiedsspruch oder ein Nachgeben bei der Gegenseite zu erreichen.

Um diese Drohung glaubhaft zu machen, bemühten die Untertanen in ihren Prozessen Zeugen, die "eine Reihe von - mitunter hochkomplexen - 'Sprachen' bzw. 'ways of talking' [nutzten], die mit lebensweltlichen Bezügen aufgeladen waren und die die Assessoren in Wetzlar [die eigentlichen Urteiler oder Richter] immer im Blick hatten, ohne dass sich die Zeugen dabei zwangsläufig auf das Beweisrecht eingelassen hätten" (19). Mitunter waren die Zeugen insofern zweifelhaft, als sie der klagenden Gemeinde nahestanden oder aus dieser stammten (20, 43f., 125-131), doch erreichten die Untertanen ihr Ziel, das Gericht und damit die Richter so zu beeinflussen, um das Gericht im oben genannten Sinne "als Verbündeten oder zumindest als 'Mediator' zu gewinnen und so die Machtverhältnisse vor Ort zu den eigenen Gunsten zu verändern" (19). Außerdem nutzten sie mit dem Zeugenverhör ein Rechtsmittel, welches sehr stark von der Gemeinde selbst kontrolliert werden konnte (23f.). Bähr bilanziert am Ende seiner Untersuchung, dass sich in allen Beispielfällen (jeweils mehrere Einzelprozesse zu einem Streit zwischen Untertanen und Obrigkeit werden gebündelt vorgestellt, zusammengefasst in den Kapiteln II.-IV., siehe oben) Argumentationsstrategien nachweisen lassen, "die nicht ausschließlich auf ein Endurteil zielten und sich auf Zeugen in eigener Sache zurückverfolgen lassen", mithin also "eine eminent 'politische' Funktion" hatten (283). So inszenierten sich die bäuerlichen Gemeinden und deren Zeugen als "gehorsame Untertanen", die gegen die "böse" Obrigkeit bzw. deren Amtsleute den "Rechtsweg" beschreiten und von diesem nicht abweichen würden. Gleichzeitig versuchten sie, die im Rahmen der Klägergruppe (factiones) innerhalb einer Gemeinde oder gar bei einem Zusammenschluss mehrerer Gemeinden für einen Prozess auftretenden Meinungsverschiedenheiten zu kaschieren bzw. "nach außen die Einmütigkeit des Prozesssyndikats zu demonstrieren" (283f.). Vergleichbar mit der zusammenfassenden Einschätzung von Diestelkamps Buch ist auch das Werk von Bähr geeignet, Farbe in das - oft zu Unrecht - als eher trist erscheinende Feld der Rechtsgeschichte zu bringen, wobei Bähr mit seiner Untersuchung der politischen Sprache einen alternativen Weg aufzeigt, um treffsichere Beschreibungen der vormodernen ländlichen Gesellschaft (287f.) zu liefern, die bisherige Vorstellungen insofern korrigieren, als sich die untertänigen Akteure zumindest in den hier betrachteten Prozessen vor dem Reichskammergericht auf einem vergleichbaren Niveau mit ihren Prozessgegnern bewegten und - wie andere Parteien auch - durchaus raffiniert versuchten, das Rechtswesen für ihre Zwecke zu manipulieren.

Robert Riemer