Verena Christ: Täter von Grafeneck. Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger "Euthanasie"-Prozess 1949 (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 88), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 242 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12516-1, EUR 50,00
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Obermedizinalbeamter Otto Mauthe, Landesjugendarzt Max Eyrich, Anstaltsdirektor Alfons Stegmann und seine Stellvertreterin Martha Fauser - diese vier deutschen Medizinerinnen und Medizinern, die sich am nationalsozialistischen Krankenmord beteiligt hatten und dafür vor Gericht gestellt wurden, stehen im Mittelpunkt der Studie von Verena Christ. Mit dieser Arbeit wurde die Autorin, selbst Medizinerin, 2017 am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen promoviert.
Erklärtes Ziel der Untersuchung ist es, "das Handeln einiger Täter von Grafeneck" zu analysieren und dadurch "einen Beitrag zur Neueren Täterforschung" zu leisten (12). Durch die Betrachtung einzelner Biografien möchte Christ auch für die Gruppe der "Euthanasie"-Ärztinnen und -Ärzte den "Versuch einer Typisierung" wagen (16). Im Vergleich zu den Täterinnen und Tätern des Holocaust seien Biografien über die Beteiligten an der "Euthanasie" rar, so die Autorin (14).
Bei der Analyse der Biografien greift die Autorin auf eine breite Quellenbasis zurück, die hauptsächlich auf den Akten der Tübinger Staatsanwaltschaft aufbaut. Gerichtsakten sind naturgemäß keine unproblematischen Quellen. Dem daraus resultierenden methodischen Fallstrick entgeht die Autorin jedoch, indem sie aus diversen Archiven Personal-, Studenten-, und Prüfungsakten sowie Presseartikel und Dokumente zur Mitgliedschaft der Angeklagten in der NSDAP und anderen NS-Organisationen heranzieht.
Der Aufbau der Publikation ist klar und sachdienlich: Nach der Einleitung und einem kurzen historischen Überblick über die Genese der "Euthanasie" und ihrer Umsetzung im "Dritten Reich" beschreibt Christ knapp die schwierigen Anfänge der juristischen Ahndung der Verbrechen nach dem Ende der NS-Diktatur in Südwestdeutschland. Danach wendet sie sich im Hauptteil ihrer Studie den Biografien der vier ausgewählten Personen zu. Sie analysiert jeweils deren Einstellung zur und Beteiligung an der "Euthanasie", den Gerichtsprozess sowie abschließend die "Ursachen der Tatbeteiligung" (65). Diese Struktur wirkt recht monoton und führt zu Redundanzen - ein dialektischer Aufbau mit einem Vergleich der vier untersuchten Personen wäre der Analyse eventuell zuträglicher gewesen.
Interessant und innovativ ist dagegen die Betrachtung der Verteidigungsstrategien der Angeklagten, deren Rezeption durch die Presse und besonders Christs ausgewogene, eng an den Quellen orientierte Beurteilung der individuellen Motive für die Tatbeteiligung. Dabei bestätigt sie das von der Neueren Täterforschung vorgezeichnete Bild höchst ambivalenter Charaktere, die zwischen Mitgefühl und Mord, Heilen und Vernichten changierten. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Ambivalenz an Otto Mauthe, der nach den Worten der Autorin "kein überzeugter Nationalsozialist war" (185) und "nie aus der Kirche aus[trat]", sich aber dennoch als "'typischer' Vertreter des Beamtentums" (187) erwies und aus karrieristischen Überlegungen heraus den Krankenmord in Abwesenheit seines Vorgesetzten "noch rigoroser und pflichtbewusster [als dieser] ab[wickelte]" (187 f.).
Mit dem aus heutiger Perspektive milden Urteil im Tübinger Grafeneck-Prozess - Eyrich wurde freigesprochen; Mauthe, Fauser und Stegmann wurden zu kurzen Haftstrafen verurteilt - setzt sich Christ eingehend auseinander und geht dabei der schwierigen Frage nach, ob dieses "gerecht" gewesen sei (197). Eine Antwort darauf liefert sie im Kapitel über "das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik". Alle untersuchten Personen konnten in der Bundesrepublik schnell beruflich wieder Fuß fassen oder Pensionsansprüche geltend machen. Dabei kann Christ auch nachweisen, dass namentlich Eyrich nicht nur keinen langfristigen beruflichen Nachteil durch sein Wirken in der NS-Zeit erlitt, sondern aus seinem Freispruch sogar Kapital schlug und sich zum "Widerstandskämpfer" stilisierte (198).
In ihrem Resümee negiert die Autorin die eingangs aufgeworfene "Frage nach der Existenz eines bestimmten Typs des 'Euthanasie'-Arztes" (212) und verweist stattdessen auf die mannigfaltigen Hintergründe, Persönlichkeiten und Motive der Beteiligten. Dennoch benennt und erörtert sie verschiedene, aus der Täterforschung bekannte Erklärungstheoreme für die Beteiligung am Massenmord, in die sich die vier untersuchten Personen in unterschiedlichem Maße einordnen lassen.
Hervorzuheben ist Verena Christs sorgfältige und umfassende Quellenarbeit, durch die sie ein fundiertes, wissenschaftlich sauber gearbeitetes Forschungsergebnis erzielt. Leider bleibt hinter der Quellenarbeit ihre Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zurück. Die Fülle der Forschungsarbeiten zum Thema "Euthanasie" macht zwar zugegebenermaßen einen vollständigen Überblick fast unmöglich, dass jedoch in einer Arbeit auf dem Feld der "Euthanasie"-Täterforschung das grundlegende Werk von Ernst Klee [1] nicht einmal erwähnt wird, irritiert dann doch sehr. Zudem fällt auf, dass die Dissertation zwischen Abgabe und Veröffentlichung hinsichtlich des Forschungsstandes offensichtlich nicht aktualisiert wurde: Keines der verwendeten Werke ist nach 2014 erschienen. Angesichts der dynamischen Forschungslandschaft ist es sehr bedauerlich, dass nicht einmal explizit konstatierte vermeintliche Forschungslücken noch einmal überprüft wurden.
Besonders erkenntnisfördernd ist die Auswahl der vier untersuchten Medizinerinnen und Mediziner. Diese personifizieren jeweils unterschiedliche Tätertypen. Trotz der nicht repräsentativen Anzahl wird so die Diversität der Tätergruppe unterstrichen. Mit Martha Fauser nimmt Christ eine Täterin in den Fokus und verweist damit auf eine Gruppe, die von der Täterforschung lange kaum beachtet beziehungsweise vorschnell exkulpiert wurde [2]. Es wäre wünschenswert gewesen, der Frage nach weiblicher Täterschaft durch geschlechtersensible Sprache mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Insgesamt ist Verena Christ eine interessante, lesenswerte Detailstudie zu einer Täterin und drei Tätern der "Euthanasie"-Verbrechen gelungen, die einen wichtigen Beitrag zur Neueren Täterforschung mit Blick auf die "Euthanasie"-Verbrechen im deutschen Südwesten leistet und sich dabei auf reiches, teilweise zuvor noch nicht ausgewertetes Quellenmaterial stützt.
Anmerkungen:
[1] Ernst Klee: Was sie taten - was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt/M. 1986.
[2] Ute Hoffmann: Normale Leute? Kollektivbiografische Anmerkungen zu den Tätern der NS-"Euthanasie", in: Maike Rotzoll u. a. (Hgg.): Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Aktion "T4" und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010, 252-258, hier 254 f.
Lea Oberländer