Frauke-Katrin Kandale: Der Islam in Indonesien nach 1998. am Beispiel der Partei Keadilan Sejahtera, Berlin: regiospectra 2008, 139 S., ISBN 978-3-940132-03-1, EUR 18,90
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Ebenso wie sich der indonesische Präsident Suharto (reg. 1967-1998) mit seiner "Neuen Ordnung" (orde baru) von dem politischen Konzept Nasakom [Nasionalisme (Nationalismus), Agama (Religion) und Komunisme (Kommunismus)] seines Vorgängers Sukarno (reg. 1945-1967) abgrenzen wollte, erhielt die Zeit nach 1998 schnell die Bezeichnung Reformasi. Es sollte die Hinwendung zu mehr Demokratie, einer liberalen Wirtschaftspolitik und größeren zivilgesellschaftlichen Freiräumen signalisieren. Allerdings gingen diese Veränderungen einher mit der Forderung nach regionaler Autonomie, dem Bestreben der Militärs, ihren Einfluss aufrecht zu erhalten, und einem wachsenden Islamismus in der Gesellschaft. Einschneidende Ereignisse stellten dann die islamisch-terroristischen Anschläge auf Bali 2002 und das Erdbeben im Indischen Ozean zwei Jahre später dar.
War es während der Suharto-Ära zu einer massiven Unterdrückung des politischen Islam gekommen, wurden während der Neuen Ordnung sämtliche islamischen Kräfte in der Vereinigten Aufbaupartei (Partei Persatuan Pembangunan, PPP) zusammengefasst. Erst nach dem politischen und gesellschaftlichen Neubeginn nach 1998 entstand eine Vielzahl islamischer Organisationen. Die Verfasserin des hier zu besprechenden Buches - eine überarbeitete Magisterarbeit, die im Jahr 2007 am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität Berlin angefertigt worden ist - möchte sich vor diesem Hintergrund mit der am 20. April 1998 in Jakarta gegründeten Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei (Partai Keadilan Sejahtera, PKS) näher beschäftigen. Ihre Leitfrage lautet: Welche Rolle spielt die PKS bei den aktuell wahrgenommenen Islamisierungstendenzen unter der muslimischen Bevölkerung Indonesiens?
Bei der Lektüre der Arbeit merkt man natürlich, dass es sich um eine erste Qualifikationsschrift handelt. So haben die ersten 95 Seiten des Textes eher hinführenden Charakter, wohingegen nur 21 Seiten dem eigentlichen Gegenstand gewidmet sind. Kandale beginnt mit einigen Ausführungen zu den historischen Hintergründen. Dies umfasst zunächst eine Einführung in den Islam und eine Erläuterung des Fundamentalismusbegriffs sowie eine kurze Vorstellung der wichtigsten islamistischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Es folgt eine Zusammenfassung der indonesischen Geschichte, wobei der Fokus auf die Gestaltungsfreiheit muslimischer Akteure unter Sukarno und Suharto gerichtet ist. Den Schwerpunkt des sich nun anschließenden Kapitels stellen die neofundamentalistischen Strömungen dar, die ihren Ursprung in der Missions- und Erziehungsbewegung der 1970er Jahre haben und seit 1980 den neomodernistischen Diskurs ihrer Vorgänger ablösten. Erkennbar ist, so die Verfasserin, eine starke Hinwendung zum orthodoxen und in Teilen der Gesellschaft zu einem streng puri-tanischen Islam arabischer Färbung. Man könne durchaus von einer Radikalisierung der ehemals moderaten muslimischen Mitte sprechen. Letztlich handele es sich um "Teile der indonesischen Jugendlichen (...) auf der Suche nach moralischen Richtlinien, abseits von wirtschaftlichem Aufschwung und Verwestlichung" (117).
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der islamischen Parteienlandschaft nach 1998 und dem Auftritt und den Ergebnissen der PKS bei den Parlamentswahlen von 1999 und 2004. Die Partei formierte sich, wie bereits erwähnt, im Juli 1998 unter der Leitung von Nur Mahmudi Ismail (geb. 1961). War man bei den ersten Wahlen noch als Partai Keadilan angetreten, so wurde der Name, da die erforderliche 2%-Hürde nicht erreicht werden konnte, 2002 in "Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei" geändert. 2004 konnte die PKS bereits 7,3% der Stimmen und damit 45 von den 550 Sitzen im Parlament gewinnen, wobei sie den stärksten Rückhalt der Wähler in den urbanen Zentren, insbesondere in Jakarta hatte. Trotz dieses Erfolges, der vor allem einem geschickten Umgang mit aktuellen und politisch brisanten Themen wie die Einführung der Scharia, der Kampf gegen Korruption und die Stärkung konservativer islamischer Werte zu verdanken war, war das islamische Lager insgesamt überaus fragmentiert und zum Teil auch zerstritten.
Hatte die Arbeit bis zu diesem Punkt recht bekannte Dinge referiert, so analysiert die Autorin in dem letzten Teil ihres Buches zum ersten mal Originalquellen in Form der beiden PKS-Parteiprogramme zu den Wahlen 1999 und 2004 an. Mit dem aus dem arabischen Kontext übernommenen Slogan "Der Islam ist die Lösung" (Islam sebagai solusi) schwamm die Partei ganz bewusst im Fahrwasser der Muslimbruderschaft und anderer fundamentalistischer Bewegungen. Die damit verbundenen Themen kamen vor allem bei den Parlamentswahlen 2004 offenbar sehr gut an. Doch auch danach blieb die PKS beliebt und erfreute sich einer gleichbleibend großen Zahl von Anhängern. Vor allem die steigende Arbeitslosigkeit und die zunehmende Armut im Zuge der Wirtschaftskrise 2007 förderten einen erhöhten Zulauf zu islamistischen Gruppen in Indonesien. Die Einführung der Scharia wird heute, so Kandale, von vielen indonesischen Muslimen nichts als Bedrohung, sondern als Motor für eine gerechte und korruptionsfreie Gesellschaft wahrgenommen. Eine islamische Moral, die im Gegensatz zum unmoralischen Westen steht, halten nicht unerhebliche Teile der muslimischen Bevölkerung für einen Garanten einer besseren Zukunft. Saudi-Arabien finanziert zudem zahlreiche Bildungseinrichtungen und Austauschprogramme unter Studierenden, so dass sich ein weitreichendes und engmaschiges Süd-Süd-Netzwerk aufbauen konnte. In der Partei selbst kam es jedoch im Laufe der Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen einem eher pragmatisch orientierten und einem eher idealistisch ausgerichteten Lager. Bei den Parlamentswahlen im Jahre 2009, die außerhalb des behandelten Zeitraums liegen, wurde die PKS mit 7,88% der Stimmen und 57 Sitzen zur viertgrößten politischen Kraft in Indonesien.
Alles in allem würde ich sagen, dass die Arbeit in Ordnung geht, obgleich man sich doch die Frage hätte stellen können, ob angesichts der vielen allzu gut bekannten Sachverhalte nicht ein Aufsatz die bessere Variante gewesen wäre. Frauke-Katrin Kandale hat zumindest plausibel erklären können, dass die - intern durchaus unterschiedlich positionierten - Aktivisten der PKS "Teil einer neuen aufsteigenden islamischen Elite sind, die dem Islam orthodoxer Färbung und radikalem islamischen Aktionismus näher steht als ihre Vorväter." (119)
Stephan Conermann