Rezension über:

Adrian E. Wettstein: Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939-1942 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 81), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 452 S., ISBN 978-3-506-77285-5, EUR 44,90
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Rezension von:
Peter Lieb
Royal Military Academy Sandhurst
Empfohlene Zitierweise:
Peter Lieb: Rezension von: Adrian E. Wettstein: Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939-1942, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11 [15.11.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/11/24208.html


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Adrian E. Wettstein: Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939-1942

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Stalingrad: Keine andere Schlacht des Zweiten Weltkriegs hat in der deutschen Erinnerungskultur eine solch zentrale Stellung eingenommen wie die Vernichtung der 6. Armee in der Wolga-Metropole im Winter 1942/43. Das hing auch damit zusammen, dass der Kampf in apokalyptisch anmutenden Ruinen ausgefochten wurde. Militärisch gilt Stalingrad bis heute als Symbol für den "Stadtkampf", einen Kampf, der von Unübersichtlichkeit, massiver Zerstörung, Kollateralschäden und Verbissenheit gekennzeichnet ist. Doch bis auf eben Stalingrad ist die Rolle der Wehrmacht in diesen Schlachten des Zweiten Weltkriegs kaum untersucht worden. Genau in diese Forschungslücke stößt Adrian Wettstein, wobei er den "Stadtkampf" als Gefechtshandlungen in Städten mit über 100.000 Einwohnern definiert.

Das Buch beginnt mit einem historischen Überblick zum Orts- und Häuserkampf. Sehr häufig wurde zwar um Städte, selten aber nur in Städten gekämpft. So schenkte auch das deutsche Militär bis zum Zweiten Weltkrieg lediglich dem Gefecht in kleineren Ortschaften Beachtung; größere Städte hingegen wurden nicht nur in der Realität, sondern auch in den Vorschriften weitgehend vermieden. Als die Wehrmacht 1939 Polen überfiel, kam es aber bereits nach kurzer Zeit in Warschau zum ersten "Stadtkampf". Das sollte in diesem Krieg nur der Auftakt zu weiteren Kämpfen in Städten sein, so in Dnepropetrovsk, Stalingrad, Paris oder Berlin.

Kern von Wettsteins "Stadtkampf"-Analyse sind vier Beispiele: Warschau 1939, Dnepopetrovsk 1941, Novorossijsk 1942 und Stalingrad 1942/43. Diese Auswahl legt den Schwerpunkt also eindeutig auf die erste Kriegshälfte und auf Osteuropa. Die Jahre 1943 bis 1945 werden nur kursorisch behandelt (392-414), auch wenn sich mit Paris, dem Warschauer Aufstand sowie den Endkämpfen in Berlin weitere interessante Fälle angeboten hätten. Man mag dies bedauern, doch ist der Fokus auf die genannten Beispiele mehr als berechtigt, wenn man den Mangel an Forschungsarbeiten zum Thema "Stadtkampf" berücksichtigt. Die vier Beispiele werden nach Verlauf, operativem Ansatz, Taktik, Führungstaktik und Logistik untersucht. Abschließend folgt ein Kapitel zur Ausbildung und Ausrüstung einzelner Truppengattungen im "Stadtkampf".

Wettstein leistet echte Kärrnerarbeit und hat sich tief in die überlieferten Quellen eingearbeitet. Wer einmal mit taktischen Erfahrungsberichten und Gefechtsmeldungen einzelner Divisionen und Regimenter gearbeitet hat, wird diese Leistung umso mehr zu schätzen wissen. Schnell wird deutlich, dass der Autor etwas vom "Kernhandwerk des Militärs" versteht: dem Kampf. So mag man ihm auch einige Längen in der Darstellung verzeihen.

Quellennah kommt die Studie zu einer Reihe von wichtigen Befunden und räumt mit einigen Mythen auf. So betont der Autor immer wieder die taktische Professionalität der Wehrmacht - auch im "Stadtkampf". Dank der ihr eigenen Führungskultur mit "nur wenigen, dafür umso tiefer verankerten Führungs- und Gefechtsgrundsätzen" (421) erwies sich die Wehrmacht flexibel genug, um sich jeweils rasch auf den neuen "Kampfraum Stadt" einzustellen. Für die Umsetzung der gewonnenen Erfahrungen machte es kaum einen Unterschied, ob es sich dabei um einen "elitären" oder einen vergleichsweise frisch aufgestellten Großverband handelte, wie der Autor am Beispiel der 24. Panzerdivision und der 305. Infanteriedivision zeigt (317-331). Damit kratzt er an dem weit verbreiteten Bild, in der Wehrmacht hätten lediglich die gut ausgerüsteten und vor Kriegsbeginn aufgestellten Divisionen den Anforderungen eines modernen Kriegs entsprochen.

Noch viel stärker greift Wettstein einen Mythos der Stalingrad-Schlacht an: Die Wehrmacht - so die gängige Sichtweise - sei schlecht ausgebildet und unvorbereitet in die Schlacht gezogen und habe trotz anfangs numerischer Überlegenheit mangels taktischer Flexibilität die Stadt nicht einnehmen können. Diese Interpretation geht auf die Memoiren des Oberbefehlshabers der sowjetischen Verteidigung, Vasilij Ivanovič Čujkov, zurück. Nach einem Abgleich der deutschen Primärquellen mit der Sekundärliteratur zur sowjetischen Seite zeichnet Wettstein aber ein ganz anderes Bild: Schon zu Beginn der Schlacht war die deutsche Seite numerisch unterlegen. Dennoch gelang es ihr, die Stadt fast vollständig einzunehmen - und das, obwohl das bebaute Gelände die sowjetischen Verteidiger eindeutig begünstigte. Stalingrad ist also keineswegs ein Beleg für das taktische Versagen der Wehrmacht.

Nur in einem Exkurs behandelt Wettstein die Fragen, um die sich in den letzten 20 Jahren die Diskussionen um die Wehrmacht drehten. Dazu gehört die Frage nach der Behandlung der Zivilbevölkerung im Krieg gegen die Sowjetunion (212-223). Wettstein betont den Unterschied zwischen den Kämpfen um Warschau 1939 und später in der UdSSR. Solange keine militärischen Notwendigkeiten entgegenstanden, sollte während des Polenfeldzugs auf die Zivilbevölkerung soweit wie möglich noch Rücksicht genommen werden. In der Sowjetunion gab es diese Hemmungen nicht mehr. Allerdings galt auch hier die Zivilbevölkerung in den Großstädten vorrangig als militärischer Störfaktor für den flüssigen Verlauf der Operationen sowie als Sicherheitsrisiko und Versorgungsproblem im Rücken der Front. Groß angelegte Evakuierungen erschienen dabei das probate Gegenmittel, doch wegen fehlender Kapazitäten ließ sich das kaum umsetzen. Verluste unter der Bevölkerung im Kampf nahm die Wehrmacht billigend in Kauf, aber eine Vernichtungsabsicht lässt sich - so Wettstein - aus den Stadtkämpfen keinesfalls ablesen.

Auch wenn die Wissenschaft bisher noch kein schlüssiges theoretisches Konzept zu einer modernen Operations- oder gar Taktikgeschichte vorgelegt hat, scheint diese lange Zeit als verstaubt geltende Unterkategorie der Militärgeschichte wieder in Mode zu kommen. [1] Moderne Militärgeschichte will sich nicht mehr nur als reine Verbrechensgeschichte präsentieren, sondern setzt diese in ihren militärischen Kontext. [2] So versteht Wettstein seine eigene Studie explizit als Basis für weitere Forschungen zum Thema "Stadtkampf". Wer "moderne" oder "erweiterte" Militärgeschichte erwartet, wird von diesem Buch wahrscheinlich enttäuscht sein. Wer aber empirische Grundlagenforschung schätzt, wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Karl-Heinz Frieser: Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 42012; Jan-Erik Schulte / Peter Lieb / Bernd Wegner (Hgg.): Die Waffen-SS. Neue Forschungen, Paderborn u.a 2014.

[2] Vgl. Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 22010.

Peter Lieb