Henrik Bispinck / Katharina Hochmuth (Hgg.): Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung (= Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht), Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 316 S., ISBN 978-3-86153-811-0, EUR 29,90
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Während der deutschen Teilung verließen etwa 3,3 Millionen Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Rund 400 000 von ihnen gingen in den Osten zurück, weitere gut 200 000 Westdeutsche suchten als sogenannte Erstzuwanderer im "Realsozialismus" eine neue Heimat. In der DDR existierten 17 sogenannte Aufnahmeheime, in der Bundesrepublik waren es bis zu 3000 Flüchtlings- und Notaufnahmelager - Orte, die mehrheitlich in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie sich mit den Hoffnungen von Millionen Deutschen verbanden. Die wohl bekannteste Ausnahme stellt das West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde dar, das 1,35 Millionen Menschen nach ihrer Flucht oder Ausreise aus der DDR eine erste Obhut bot. Anlässlich des 60. Jahrestages seiner Eröffnung wurde 2013 eine Konferenz mit dem Titel "Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland" ausgerichtet; nun liegt der von Henrik Bispinck und Katharina Hochmuth herausgegebene gleichnamige Tagungsband vor, der ein interessantes Kapitel einer integrierten deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte anspricht. Zusätzlich bietet er Anregungen für gleich zwei Forschungsfelder: So ist der Band ein willkommener Beitrag zur Debatte um Zwangsmigration im 20. Jahrhundert, die hierzulande vornehmlich auf die Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten fokussiert ist. Gewinnbringend ist ebenfalls die veränderte Perspektive auf die Institution Lager, die in der Forschung - und in der Öffentlichkeit - meist als Ort der Gewalt und Repression wahrgenommen und diskutiert wird. Flüchtlingslager hingegen, so Bispinck und Hochmuth, können als "Anlauf- und Aufnahmestätte für Menschen in Not auch positive Konnotationen hervorrufen" (13).
Im Mittelpunkt des Bandes stehen die westlichen Notaufnahme- und Durchgangslager für Flüchtlinge aus der SBZ und DDR: Neben Marienfelde sind das die Lager in Gießen, Sandbostel und Uelzen-Bohldamm, die in fundierten Einzelstudien vorgestellt werden, gleiches gilt für das Grenzdurchgangslager Friedland, das vornehmlich Kriegsheimkehrern als erste Anlaufstelle im Westen diente. Jeder dieser Beiträge setzt andere Akzente: Verwaltung, Erfahrung und Wahrnehmung dieser Lager verfugen sich auf diese Weise zu dem facettenreichen Bild einer Institution von - wie auch der Beitrag über die Aufnahmeheime in der DDR zeigt - hoher symbolischer Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung um das "bessere" Deutschland. Erinnerungskulturelle und museale Fragestellungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie stehen für den Versuch, den Erinnerungsort der deutsch-deutschen Fluchtbewegungen näher zu bestimmen. Jochen Oltmers einleitende Ausführungen über Deutschland als Schauplatz von Massenzwangsmigration während und nach dem Zweiten Weltkrieg runden diesen Ansatz ab.
In einigen Beiträgen wird zudem deutlich, wie eng das Netz von Lagern in Deutschland noch Jahre nach Kriegsende geknüpft war. So berichtet Enrico Heitzer von 103 Flüchtlingslagern im März 1953 allein in West-Berlin - eine aus heutiger Sicht schier unglaubliche Zahl, die auf die Ubiquität von Lagern im öffentlichen Raum aufmerksam macht und sie auch für Anrainer als Alltagsphänomen kennzeichnet. Dabei macht Heitzer deutlich, dass zahlreiche dieser Unterkünfte während der NS-Zeit als KZ-Außenlager gedient hatten oder zur Unterbringung von Zwangsarbeitern genutzt worden waren. Die konsekutive Nutzung bestimmter Lagerterritorien vor und nach 1945 beschäftigt auch Matthias Beer: "Viele in der Zwischenkriegs- und der NS-Zeit errichtete Lager", heißt es in seinem Beitrag, "blieben auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen, wurden weiter genutzt und erhielten lediglich neue Insassen und neue Namen." (49) Beer schreibt mit dieser irritierenden Einschätzung nachweislich gegen die anderen Autorinnen und Autoren an. Und doch markiert sie ein Versäumnis, das sich durch den gesamten Band zieht: Es fehlt an dem systematischen Versuch, die Flüchtlingslager definitorisch zu fassen und dadurch von Instrumenten politischer Repression zu unterscheiden - oder, mit Blick auf die Nachkriegszeit, etwa von den Lagern für "Displaced Persons". Ohne grundlegende Diskussion von Fragen der Inklusion und Exklusion und damit nach dem politischen Willen ihrer Träger droht jedoch ein Charakteristikum der Flüchtlingslager mitunter aus dem Blick zu geraten: Dass es um die "Integration von Deutschen in Deutschland" ging, wie es immerhin in einem Beitrag heißt (271).
Trotzdem wird in vielen Beiträgen deutlich, mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten diese Zielsetzung behaftet war. In ihrer Summe unterminieren die Beispiele nicht nur die erstaunlich langlebige Legende einer umstandslos geglückten Integration deutscher Flüchtlinge, Vertriebener und Zuwanderer. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Flüchtlings- und Asyldebatte werden überdies abwehrende Grundmuster deutlich, die sich - ungeachtet der Nationalität der Fremden - nicht minder zäh zu halten scheinen: Ob es um die Unterscheidung zwischen "echten" Flüchtlingen und "illegalen Grenzgängern" geht, also um das Anrecht auf staatliche Hilfsleistungen für nachweislich politisch Verfolgte (im Gegensatz zu angeblichen "Schmarotzern und Asozialen"), ob Bund, Länder und Kommunen um Finanzierungsfragen feilschen, ob an das Abtauchen Tausender Abgelehnter in die Illegalität, die Räumung "wilder" Lager in Wäldern oder Protestmärsche zum Sitz der Bundesregierung erinnert wird. Das eigentliche Verdienst dieses Sammelbandes besteht darin, diese Kontinuitäten im konfliktreichen Umgang mit Flüchtlingen implizit sichtbar gemacht zu haben.
Bettina Greiner