Gustav Adolf Lehmann: Alexander der Große und die "Freiheit der Hellenen". Studien zu der antiken historiographischen Überlieferung und den Inschriften der Alexander-Ära (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge; Bd. 36), Berlin: De Gruyter 2015, VI + 257 S., ISBN 978-3-11-040552-1, EUR 99,95
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Angeregt durch die Angabe des Oxyrhynchos-Papyrus 4808, dass der verschollene Alexanderhistoriker Kleitarchos erst um die Mitte des 3. Jahrhunderts lebte und deswegen unter keinen Umständen Zeitgenosse, noch weniger Augenzeuge des Alexanderzuges, wie manchmal gemutmaßt, gewesen sein kann, will Lehmann eine systematische Neubewertung der Quellen zur Alexandergeschichte vornehmen. An einigen ausgewählten Episoden, wo die Lage klar zu sein scheint, untersucht er die Zuverlässigkeit der einzelnen antiken Quellentraditionen. Da außer dem Papyrus aus Oxyrhynchos keine andere präzise antike Angabe zu den Lebensdaten des Kleitarchos vorliegt, bleibt das anonyme Papyrusfragment aus der ägyptischen Provinzstadt - aus welcher Art von Schrifttum die kurzen Notizen auch immer stammen mögen - anscheinend das Beste, was wir haben. Das Grundergebnis von Lehmanns Untersuchung bleibt danach nicht unerwartet: Die spektakulären Teile der kleitarchischen Tradition bei Diodoros und Curtius Rufus bzw. Justinus werden zugunsten der nüchternen, halbwegs offiziösen Tradition der Augenzeugen, insbesondere Kallisthenes, Ptolemaios und Aristoboulos, deren Angaben Arrians Geschichte zugrunde liegen, verworfen.
Der Ansatz ist keineswegs neu, wurde mit Vehemenz bereits von William Tarn vertreten, musste aber vielleicht doch in aller Deutlichkeit wieder gesagt werden, wobei Lehmann Kleitarchos und die lateinische sogenannte Vulgata-Tradition nicht vollständig ablehnt, insbesondere da, wo es keine Parallelquelle gibt. Das fundamentale Interpretationsdilemma bleibt trotzdem bestehen: Aus der literarischen Tradition können wir wählen entweder bei Arrian eine sicherlich, aus welchen Gründen auch immer erfolgte sanitizierte Darstellung Alexanders oder bei Diodoros und den Lateinern die kleitarchische Tradition, die eine stärker vermenschlichte Darstellung bietet, doch eine, die durch fantasievolle psychologisierende und teilweise frei erfundene Ergänzungen - sowohl positiver als negativer Art - dem Geschmack der Zeit der jeweiligen Darstellung angepasst wird. Lehmann versucht Arrians Bild des reicheerobernden und reichsregierenden, des auch um das Wohl seiner Untertanen schwierige aber grundsätzlich fürsorgende Entscheidungen treffenden Alexanders durch die bewusste Heranziehung der bekannten Inschriften (aus Chios, Priene, Mytilene, Tegea sowie Philippoi) zu untermauern, und er hat dabei einige Erfolge. Er hat gewiss wichtige Aspekte von Alexanders Verwaltungspraxis erneut besonders herausgestellt.
Hier ist aber nicht der Ort, seine Argumente im Detail zu erörtern. Vielem, was Lehmann ausführt, kann man zustimmen, wobei die genaue Datierung der Dokumente in keinem einzigen Fall völlig sicher ist, was den präzisen politischen Zusammenhang nur schwer ermittelbar bleiben lässt. Ich selbst neige nach wie vor zur Annahme eines zumindest im Hinblick auf die Griechen eher pragmatisch handelnden Alexanders. Denn die Griechen waren keine einheitliche Masse. Die kleinasiatischen Griechen hatten seit zwei Generationen eine völlig andere Verfassungsgeschichte erlebt als die europäischen Griechenstaaten mit dem Ergebnis, dass Alexander bei der Eroberung Kleinasiens - entgegen seinen Erfahrungen mit den widerspenstigen Demokratien Europas, wo Antipatros gleichzeitig in einigen Fällen im Namen Alexanders sogenannte Tyrannen einsetzte - die Einführung von Demokratie anordnen konnte in der berechtigten Erwartung, dass die Demokraten in den so beglückten Poleis ihm dankbar und loyal bleiben würden. Alexander hatte also keinen Grund, dogmatisch für oder gegen Demokratie im Allgemeinen zu sein: seine Haltung war kontingent. Deswegen kann ich Lehmann nicht folgen, wenn er Plutarchs kurze zusammenfassende Angabe (Alex. 34) über den Inhalt von Alexanders Brief an die Griechen nach Gaugamela, dass die Tyrannen beseitigt und die Griechen autonom seien, in dem Sinne auffasst, dass diese von Plutarch als Tatsachenfeststellung präsentierte Äußerung doch nicht eine Feststellung des Geschehenen, sondern ein Programm für die Zukunft sei. Plutarch sagt das aber nicht, und Antipatros im Namen Alexanders verhielt sich nicht dementsprechend. Wie Hamilton in seinem Plutarchkommentar ausführt - von Lehmann explizit abgelehnt -, muss sich die Aussage um Kleinasien handeln, wo es inzwischen völlig berechtigt sei.
Lehmann macht seinen Lesern die Lektüre seiner an sich lesenswerten Ausführungen nicht leicht. Es scheint Mode geworden zu sein, Adjektive bzw. adjektivale Zusätze in runden Klammern zu setzen. Das Verständnis dafür fehlt mir. Die Sitte verursacht aber besondere Schwierigkeiten, wenn mehrere solche Einklammerungen kurz nach einander, manchmal auch mit Gedankenstrichen gespickt, stehen oder, noch schwieriger, aus Versehen nicht abgeschlossen oder lediglich abgeschlossen werden. Überhaupt hat der Verlag der Göttinger Akademie dem Autor beim Satz einen Bärendienst erwiesen. Ich habe noch nie ein ausgeliefertes Buch mit so vielen Druckfehlern - insbesondere, aber nicht nur, in den Anmerkungen - in der Hand gehabt. Ein Anhang bietet die griechischen Texte und Übersetzungen der behandelten Inschriften. Die griechischen Texte sind aber leider so fehlerhaft, dass man vom Gebrauch nur abraten kann. Es fehlen auch Hinweise auf die akkuraten Texte und nützlichen Kommentare bei Rhodes-Osborne (2003), stattdessen wird auf den alten Tod II (einmal "Tot"!) verwiesen. Schade drum.
R. Malcolm Errington