Jörg Bölling: Reform vor der Reformation. Augustiner-Chorherrenstiftsgründungen an Marienwallfahrtsorten durch die Windesheimer Kongregation (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter; Bd. 61), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014, XIV + 248 S., ISBN 978-3-643-12612-2, EUR 34,90
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Die hier anzuzeigende Arbeit wurde im Sommersemester 2010 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation vorgelegt. Der Verfasser widmet sich in einem darstellenden Teil mit vier Kapiteln, die von einem umfangreichen Textanhang ergänzt werden, einem bislang in der Forschung zur spätmittelalterlichen Reformbewegung der Devotio moderna kaum beachteten Thema, dessen Grundlagen in der Einleitung (1-6) vorgestellt werden: Die beiden Zweige der Devotio moderna, die semireligiosen Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben und die Augustiner-Chorherren und -Chorfrauen der Windesheimer Kongregation, galten im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert als direkte Vorläufer der protestantischen Reformation. Dagegen hat die jüngste Forschung zu Recht eine erhebliche Tendenz zur institutionellen wie spirituellen Exklusivität und Abschottung der Devotio moderna festgestellt, die keineswegs zur Lösung der grundlegenden gesellschaftlichen Dichotomie zwischen Geistlichen und Laien beitrug und daher kaum als präreformatorisch gelten darf. Der Verfasser beabsichtigt dagegen am Beispiel der bislang eher vernachlässigten Wallfahrtsregie der Windesheimer Kongregation zu zeigen, dass die eigenen monastischen Reformideale der Augustiner-Chorherren wenigstens punktuell mit den aktuellen Formen populärer Frömmigkeitspraxis (Gnadenbildverehrung, Wunderglaube, Wallfahrt) zu einer zukunftsträchtigen Synthese verschmolzen, die freilich nicht auf die protestantische Reformation Luthers, sondern auf die katholische Reform des späten 16. und 17. Jahrhunderts vorausweist.
Im Mittelpunkt steht dabei die Marienwallfahrt zum Windesheimer Stift Eberhardsklausen unweit von Trier, die aufgrund der Chronik des Chorherrn Wilhelm von Bernkastel sehr gut dokumentiert ist. Als Arbeitsgrundlage dient dabei eine Transkription der Urfassung dieser Chronik, die in einem Textanhang (125-225) dargeboten wird; eine kommentierte kritische Edition behält sich der Verfasser vor. Als Vergleichshorizont dienen die Windesheimer Stifte in den Wallfahrtsorten Bödingen, Birklingen und Hirzenhain, deren Geschichte quellenkritisch und monographisch bereits gut aufgearbeitet ist. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis (227-248) beschließt den Band, ein Register fehlt allerdings.
Im ersten Kapitel ("Die Reformen der Windesheimer Augustiner-Chorherren-Kongregation", 7-17) stellt Bölling die allgemeinen Grundlagen seiner Untersuchung vor. Er bietet allerdings keinen Gesamtüberblick zu den Windesheimern (wie man nach der Überschrift annehmen könnte), sondern stellt außerordentlich reduziert (7-10) die beiden Zweige der devoten Bewegung, deren wichtigsten Chronisten Johannes Busch und - gewissermaßen als dessen regionales Gegenstück - den Eberhardsklausener Geschichtsschreiber Wilhelm von Bernkastel vor. Es folgen ebenfalls recht knappe historische Abrisse zu den vier behandelten Stiften mit dem Schwerpunkt auf Eberhardklausen, wobei der Aspekt der Wallfahrt im Mittelpunkt steht.
Kapitel II ("Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Devotio moderna und ländlicher Frömmigkeit", 19-50) stellt die Hauptquelle der Untersuchung, die Chronik Wilhelms von Bernkastel, ausführlich vor. Auf eine ausformulierte Handschriftenbeschreibung folgen Überlegungen zu Gestalt, Aufbau und Funktion des Werkes, die sich mit den großen historiographischen Werken Johannes Buschs zur Devotio moderna und zur Klosterreform vergleichen lassen. Thematisiert werden außerdem die Unterschiede zwischen Ur- bzw. Probefassung und Endfassung sowie der besondere Quellenwert von Wilhelms Chronik, die neben der Geschichte des Klosters auch die laikale Wallfahrtsfrömmigkeit in den Blick nimmt. Ein zweiter Abschnitt beleuchtet die übrigen Quellen aus Eberhardsklausen sowie die Memorialüberlieferung aus den drei genannten Vergleichskonventen.
Den Hauptteil der Analyse bilden die Kapitel III zur Frömmigkeitspraxis (51-93) und IV zur Förderung bzw. Restriktion der devoten Wallfahrtsregie durch den Episkopat bzw. die römische Kurie (95-119). Zunächst stellt Bölling in einer intensiven Auswertung von Wilhelms Chronik exemplarisch die eher spirituell orientierte Wunderauffassung der Devoten, die explizit u. a. von Johannes Busch formuliert worden ist, dem dezidiert praxis- und körperbezogenen Wunderverständnis der laikalen Wallfahrer (Heilungsmirakel usw.) gegenüber und verfährt darauf ebenso mit den Gebetsformen beider Gruppen. Die anschließende abrissartige Erörterung des Leib-Seele-Verhältnisses in der Bibel sowie in der patristischen und mittelalterlichen Theologie (84-89) versucht diese Themen zu resümieren, wirkt aber auf den Leser etwas unvermittelt und zu abbreviiert. Die abschließenden kurzen Ausführungen zur gesellschaftlichen Herkunft und dem Spendenaufkommen der Wallfahrer (89-93) bleiben, da allein aus Wilhelms Chronik extrapoliert, ebenfalls zu allgemein, da keine weiteren Quellen herangezogen wurden.
Die drei übrigen Chorherrenstifte an den Marienwallfahrtsorten in Bödingen, Birklingen und Hirzenhain werden erst wieder im vierten Kapitel thematisiert, das übersichtlich und quellennah die zwischen Förderung und Kritik oszillierende Haltung des Episkopats der betreffenden Diözesen und des Kardinallegaten Nikolaus von Kues als Vertreter der Kurie zu den devoten Pilgerzentren beleuchtet.
Den zweiten großen Teil der Arbeit bildet die Transkription des Urtextes von Wilhelms Chronik nach dem in Trier aufbewahrten Autograph; die Lesarten einer Abschrift des 17. Jahrhunderts sind in einem Apparat angeführt. Die Transkriptionsprinzipien sind vorangestellt und ausführlich erläutert. Obwohl der gebotene Text eine Mischform aus diplomatischer Abschrift und Edition darstellt, ist die Präsentation gelungen, zumal die eigentliche kritische und entsprechend kommentierte Ausgabe auf der Grundlage dieser Arbeitsfassung noch vom Verfasser vorbereitet wird. Es wäre wünschenswert, wenn diese in naher Zukunft folgen könnte.
Böllings Arbeit ist eine verdienstvolle und methodische, inhaltlich ausgewogene und gut lesbare Darstellung, die das bisher eher abseitige Thema der Devotio moderna als Vorläuferin der katholischen Reform im Bezug auf Marienkult und Wallfahrtsregie anhand klug ausgewählter Beispiele und eines außerordentlich vielfältigen und inhaltlich breit angelegten Quellentextes in den Blickpunkt der Forschung rückt. Das einzige Defizit bilden die oft allzu knapp und abrissartig gehaltenen Darlegungen zu den allgemeinen Aspekten der Thematik, wie devote Schriftlichkeit und Reformpraxis. Insbesondere in den ersten beiden Kapiteln wäre gerade für mit der Materie wenig vertraute Leser eine ausführlichere Darstellung, die in den Überschriften zwar angekündigt, in den Darstellungen aber nur angerissen wird, zu wünschen gewesen.
Bertram Lesser