Wolfgang Günter: Reform und Reformation. Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten (1432-1539) (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 168), Münster: Aschendorff 2018, 605 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-402-11601-2, EUR 78,00
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Jörg Bölling: Reform vor der Reformation. Augustiner-Chorherrenstiftsgründungen an Marienwallfahrtsorten durch die Windesheimer Kongregation, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014
Dieter Kastner (Bearb.): Die Urkunden von Kloster Gaesdonck. Regesten 1351-1550, Bonn: Verlag Dr. Rudolf Habelt 2016
In zweierlei Hinsicht steht die deutsche Reformkongregation der Augustinereremiten immer wieder im Interesse der Forschung: zum einen im Kontext der Kirchenreformbemühungen des 15. Jahrhunderts, zum anderen im Kontext der Reformationsforschung. Luther war Augustinereremit, sein Beichtvater und Förderer Johannes von Staupitz zu dieser Zeit Generalvikar der observanten Kongregation und der Orden ein Netzwerk und Resonanzboden der frühen reformerisch-reformatorischen Aktivitäten. Zu selten werden allerdings beide Forschungsstränge miteinander verbunden. Entsprechend erfreulich ist es, dass Wolfgang Günter - ein profunder Kenner der Materie und insbesondere der ordens- und kirchenrechtlichen Zusammenhänge - eine neue Gesamtgeschichte der Reformkongregation vorgelegt hat. Dieses Buch wird, soviel lässt sich voraussehen, auf absehbare Zeit ein unentbehrliches Referenzwerk bilden.
Die ersten gut 60 Seiten nach der Einleitung mit Überblick über Forschungsgeschichte und Quellenlage sind den institutionellen und inhaltlichen Voraussetzungen und Kontexten der Entstehung der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten gewidmet. Sie beinhalten ein Portrait des Augustinerordens (23-42), eine Analyse seiner Krisenerscheinungen im 14. und frühen 15. Jahrhundert (43-57) und die Anfänge der observanten Reformen (59-83). Die eigentliche Darstellung der Geschichte der Kongregation orientiert sich in ihrem Aufbau chronologisch am Wirken der Generalvikare Heinrich Zolter (85-116), Andreas Proles (127-156 und 169-236), Simon Lindner (157-168), Johannes von Staupitz (281-355) und Wenzeslaus Linck (381-420). Dem reihen sich thematisch angelegte Kapitel über "Rahmenbedingungen postkonziliarer Ordenspolitik" (117-126), Klostergründungen (237-248), das Problem von Frauengemeinschaften unter der Observanz (271-279) und die Rolle der Reformkongregation im Ablassstreit und der causa Lutheri (357-380) ein. Im Anschluss an die Darstellung der zweiten Amtszeit des von 1458 bis 1503 mit nur sechsjähriger Unterbrechung amtierenden Proles, der die Union zu ihrer Blüte um die Jahrhundertwende führte, ist zudem unter dem Titel "Binnenansichten der Union" (249-270) ein zur Orientierung sehr hilfreiches, überblicksartiges Kapitel als eine Art Zwischenfazit eingefügt. Den Schluss bildet ein Epilog über die letzten Jahre und den Untergang der Union in der Reformationszeit (421-436).
Günter schreibt in großer Nähe zu den Quellen, auf die zur Freude künftiger Forscherinnen und Forscher detailliert verwiesen wird (was für Überblicksdarstellungen nicht selbstverständlich ist). Die Auseinandersetzung mit Deutungen älterer Werke wie auch mit zahlreichen Studien zu einzelnen Personen, Themen und Problemen geschieht nachvollziehbar. Klar benennt der Autor, wo aufgrund mangelnder Quellen über Handlungsmotive etc. nur spekuliert werden kann. Dabei wägt er sorgsam mögliche Alternativen ab und bezieht auch deutlich Stellung gegenüber anderslautenden Forschungspositionen. Dies fällt beispielsweise im Kapitel über Johannes von Staupitz auf, in dem auf Grundlage der jüngsten Forschungen Hans Schneiders - dem die Forschung eine Reihe bedeutender Studien inklusiver neuer Quellen über den Orden in vor- und frühreformatorischer Zeit verdankt (vgl. 17) - Aspekte regelmäßig anders eingeschätzt werden als in den Arbeiten Schneiders (vgl. 305, 314, 321, 323, 324). Insofern besteht der Wert des Buches nicht nur in dem gebotenen Gesamtüberblick, sondern es stellt selbst einen Forschungsbeitrag dar. Dafür dient nicht zuletzt der knapp 100-seitige Anhang mit dem Abdruck von 44 zum Teil verstreut erschienenen, zum Teil bislang ungedruckten Quellen (vor allem kirchenrechtliche Dokumente, Briefe und Protokolle).
Der seltene Versuch einer institutionengeschichtlichen Gesamtdarstellung wurde vor Günter lediglich von zwei Personen unternommen: Bahnbrechend und lange Zeit bestimmend war die Untersuchung des protestantischen Kirchenhistorikers Theodor Kolde aus dem Jahr 1879. [1] Außerdem enthielt die von dem Augustiner Adalbero Kunzelmann knapp 100 Jahre später verfasste siebenbändige "Geschichte der deutschen Augustinereremiten" einen Band über die Reformkongregation. [2] Problematisch sieht Günter das durch Kolde geprägte Bild von Andreas Proles, dass dessen Reformen "nur der alten Strenge von Regel und Konstitutionen gegolten" (14) hätten. Auch jüngere Forschungen stellten den erfolgreichen Ordensreformer in ein negatives Licht, wenn er entweder als Spielball der landesherrlichen Obrigkeit [3] oder im Blick auf seine zu reformierenden Konvente als diktatorisch agierend dargestellt wurde. [4] Demgegenüber zeichnet Günter das Bild eines mit den Landesherren auf Augenhöhe agierenden Vikars, der sich strategisch für seine Reformziele einsetzte, dabei allerdings nicht despotisch, sondern im Rahmen üblicher Handlungsmuster auf der Basis von Ordensregel und -konstitutionen vorging (254f.). Merkwürdigerweise fällt demgegenüber Proles' Nachfolger Staupitz in der Beurteilung weit ab: Ihm habe die Fähigkeit zum strategischen Denken, der Wille zum Erfolg und überhaupt die persönliche Eignung als Bettelmönch gefehlt (285f.), stattdessen changierte sein Vorgehen Günter zufolge zwischen unüberlegt (287), intrigant (298), kurzsichtig (355) und ängstlich (270, 372). Ob diese Porträtierung insgesamt angemessen ist, kann zumindest angefragt werden; hier schien der Wille zum Verstehen von Staupitz' eigenen Anliegen jedenfalls weniger ausgeprägt.
Nichtsdestotrotz: "Reform und Reformation" ist ein gelungenes Werk! Es zeichnet die Geschichte der deutschen Reformkongregation der Augustinereremiten und insbesondere ihrer Generalvikare sorgfältig in die Spannungsfelder eines Jahrhunderts ein. So wird sowohl auf die Reformen und Reformversuche des 15. Jahrhunderts als auch auf die Entstehung der Reformation im frühen 16. Jahrhundert ein neues, faszinierendes Licht geworfen.
Anmerkungen:
[1] Theodor Kolde: Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz, Gotha 1879.
[2] Adalbero Kunzelmann: Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten. Band 5: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden (= Cassiciacum; Bd. 26), Würzburg 1974.
[3] Bezogen auf Manfred Schulze: Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (= Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe; Bd. 2), Tübingen 1991.
[4] Bezogen auf Ralph Weinbrenner: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustinereremit Andreas Proles (1429-1503) (= Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe; Bd. 7), Tübingen 1996.
Jonathan Reinert