Harald Gilbert: Das besetzte Kreta 1941-1945 (= Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns; Bd. 63), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2014, 404 S., 55 Abb., ISBN 978-3-447-10186-8, EUR 49,00
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Alexandra Klei / Katrin Stoll (Hgg.): Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941-1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, Berlin: Neofelis Verlag 2019
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Ulf-Dieter Klemm / Wolfgang Schultheiß (Hgg.): Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Frankfurt/M.: Campus 2015
Harald Gilbert: Der Krieg in der Ägäis. 1943-1944, Wiesbaden: Harrassowitz 2018
Hagen Fleischer: Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Übersetzung aus dem Griechischen von Andrea Schellinger, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Über die Eroberung bzw. (je nach Blickwinkel) Besetzung Kretas durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gibt es eine Fülle an Literatur. Die meisten Bücher befassen sich mit den Militäroperationen und dem Widerstand gegen die Besatzungsmächte. Harald Gilbert versucht, ein umfassendes Bild dieser Zeit zu vermitteln, indem er auch einige andere, z.T. wenig bekannte Aspekte behandelt. Dazu gehören u.a. das Wirken deutscher Künstler und Wissenschaftler, die Kriegsgefangenschaft der italienischen Soldaten, die Ermittlungen und die Prozesse gegen ehemalige Wehrmachtsoffiziere sowie die Darstellung des Alltagslebens der Soldaten.
In Kapitel I geht es um den Angriff der Wehrmacht im Mai 1941. Die Beteiligung der Zivilbevölkerung an der Schlacht wird unter dem Aspekt des Völkerrechts, insbesondere der Frage nach der Verstümmelung bzw. Leichenschändung deutscher Soldaten, untersucht. Die Repressalien und die Massaker der Wehrmacht gegen die Zivilisten während und unmittelbar nach den Kämpfen dauerten bis September 1941. Der Autor setzt sich mit der Frage der Befehlserteilung auseinander. Wer hat die entsprechenden Befehle erteilt und wer trägt die Verantwortung? Leider wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, dass es viele Fälle gegeben hat, in denen die Zivilbevölkerung gefallene deutsche Soldaten anständig bestattet und die Wehrmacht bei ihrem Vormarsch manchmal Zivilisten als lebendigen "Schutzschild" eingesetzt hat.
In Kapitel II wird die Zeit von September 1941 bis Ende 1943 behandelt. Die deutsche Militärführung maß Kreta eine sehr wichtige strategische Bedeutung zu (u.a. wegen der Versorgung der Truppen Erwin Rommels in Nordafrika). Auf Kreta waren 45.000 deutsche und 32.000 italienische Soldaten stationiert. Das hat auch mit dazu beigetragen, dass die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln dramatisch war. Sie hatte unter Hunger, Zwangsarbeit, massiven Einschränkungen der persönlichen Freiheit und anderen Repressalien zu leiden. In diesem Zeitraum formierte sich auch der bewaffnete Widerstand der Zivilbevölkerung. Britische Offiziere kamen nach Kreta, offiziell um den Widerstand zu organisieren und zu koordinieren, inoffiziell aber um ihn zu kontrollieren und den Einfluss des linken Widerstandes zurückzudrängen. Im Sommer und Herbst 1943 fanden verstärkt Partisanenangriffe bzw. Sabotageakte durch britische Kommandos statt. Die Wehrmacht reagierte mit Geiselerschießungen und Massakern. Im September 1943 kapitulierte Italien und wechselte die Seite. Die italienischen Soldaten wurden von den ehemaligen Verbündeten in Kriegsgefangenschaft genommen. Die Wehrmacht hatte jetzt auch die Kontrolle über Ostkreta.
In Kapitel III wird die letzte Phase der Besatzungszeit von Anfang 1944 bis Mai 1945 analysiert. Der Kommandeur der 22. Infanteriedivision, General Karl Heinrich Georg Ferdinand Kreipe, wurde von britischen Kommandos mit Hilfe der Partisanen entführt. Die griechischen Juden wurden aus Westkreta deportiert. Im Sommer 1944 nahmen die Partisanenaktivitäten nochmals zu, wieder gab es Repressalien und Massaker. Ab September begann der Rückzug der Wehrmacht aus Kreta. Da die Räumung aufgrund der Lufthoheit der Alliierten extrem gefährlich war, konnten etwa 14.000 deutsche Soldaten nicht mehr auf das Festland gebracht werden. Sie zogen sich nach Westkreta in eine Enklave um die Stadt Chania zurück und warteten dort auf das Ende des Krieges. Am 9. Mai 1945 ergaben sie sich den Briten.
Kapitel IV enthält Auszüge aus den Briefen und Notizbüchern des Hauptmanns Lutz Beutin. Er war von Oktober 1942 bis zum Abzug der Wehrmacht im September 1944 auf Kreta stationiert. Seine zahlreichen Berichte geben uns buchstäblich aus erster Hand Informationen über das Alltagsleben der deutschen Soldaten. Durch seine Berichte bekommt man ein recht genaues und detailliertes Bild über das "Innenleben" der Truppe. Es geht um den Dienst, die Disziplin, die Kampfmoral, die Übungen, die Versorgung, die Verpflegung, die Unterkunft, den Strafvollzug, den Urlaub, die Post, die Bekleidung, die Feste, den Alkoholkonsum, die Sexualität, die Betreuung durch den Divisionspfarrer, die Freizeitaktivitäten (Filmvorführungen, Theater, Varieté, Musik, Bücher, Sport) usw. Da die Briefe und die Notizbücher noch nicht veröffentlicht waren, sind diese Auszüge eine wertvolle Quelle.
In Kapitel V werden die Kunstmaler Rudo Schwarz und Alfons Abel, der Schriftsteller Erhart Kästner, die Zoologen Hans Siewert und Heinz Sielmann sowie die Archäologen Ulf Jantzen und Roland Hampe vorgestellt. Als Angehörige der Wehrmacht waren sie mit unterschiedlichen Aufgaben auf Kreta tätig. Die Kunstmaler zeichneten und malten Menschen und Landschaften. Einige Kostproben ihrer Werke sind im Buch enthalten. Schwarz verfasste außerdem ein Tagebuch, das viele interessante Informationen über die Menschen und das Land vermittelt. Erhart Kästner bereiste als Soldat Griechenland und machte sich viele Notizen. Während des Krieges erschien sein Buch "Griechenland". Nach dem Krieg hat er seine Texte neu bearbeitet und bestimmte Passagen "bereinigt". Seine Bücher "Ölberge, Weinberge" und "Kreta" waren sehr bekannt und beliebt. Der Autor setzt sich kritisch mit dem Schaffen dieses Schriftstellers auseinander. Die Zoologen stellten ornithologische Beobachtungen in Westkreta an. Dabei entstand umfangreiches Filmmaterial. Jantzen leitete auf Kreta die Kunstschutz-Dienststelle. Seine Hauptaufgabe war, wie er einmal in einem Gespräch mir gegenüber äußerte, darauf zu achten, dass die Generäle keine Kunstgegenstände entwendeten und nach Deutschland mitnahmen. Wertvoll sind seine Informationen über rechtswidrige Ausgrabungen der Wehrmacht. Der griechische Staat bemüht sich seit dem Ende des Krieges um die Rückgabe gestohlener Kunstschätze.
Im sechsten und letzten Kapitel geht es um die Ermittlungen und die Prozesse gegen ehemalige Wehrmachtsangehörige. Gegen Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre wurde in Deutschland, auf Drängen der griechischen Justiz, gegen mehrere Beschuldigte ermittelt. Es ging um deren Beteiligung an Kriegsverbrechen. Der Autor hat die entsprechenden Unterlagen der Zentralen Ermittlungsstelle in Ludwigsburg ausgewertet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass alle Ermittlungen mit folgenden Begründungen eingestellt wurden: Die Tat war nicht mehr nachzuweisen oder die Beschuldigten hatten "nur" Befehle ausgeführt oder die Vergeltungsaktionen waren rechtens. Es wurde keine einzige Anklage erhoben.
Von den Prozessen, die in Griechenland stattfanden, erwähnt der Autor die gegen die Generäle Alexander Andrae, Bruno Bräuer und Friedrich-Wilhelm Müller. Andrae wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, Bräuer und Müller wurden zum Tode verurteilt und 1947 hingerichtet. Aber es gab noch einen weiteren Prozess, nämlich den gegen den Unteroffizier Fritz Schubert, der im Buch mehrfach im Zusammenhang mit Gräueltaten auf Kreta genannt wird. Nachdem er Kreta mit seinen griechischen Kollaborateuren verlassen hatte, kam er auf das Festland, wo er das Morden fortsetzte. Nach dem Krieg wurde er in Thessaloniki zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Bei der Gesamtdiskussion um die Geschichte Kretas im Zweiten Weltkrieg gibt es einige Fragen, die kontrovers diskutiert werden, wie z.B. die Beteiligung der Zivilbevölkerung an der Schlacht oder der Stellenwert des Widerstandes. Der Autor zieht unterschiedliche Quellen heran und zitiert verschiedene, z.T. sich widersprechende Aussagen. Er wertet sie aus und nimmt für sich eine Bewertung vor. Da diese Aussagen vorliegen, kann der Leser sich aber auch sein eigenes Urteil bilden. Das ist ein Verdienst des Autors. Ein Namensindex ist vorhanden, aber ein Abkürzungsindex fehlt. Für manche Leser wäre er bestimmt hilfreich. Die Verwendung der Termini Alliierteninvasion (statt Alliiertenlandung) und Partisanenüberfall (statt z.B. Partisanenangriff) ist unglücklich. Nach Kriegsende bereiste eine dreiköpfige Kommission im Auftrag des griechischen Staates ganz Kreta und dokumentierte alle Verbrechen und Katastrophen. Es ist schade, dass der Autor diese Quelle nicht berücksichtigt und ausgewertet hat. Dem Buch ist eine griechische (leider nicht deutsche) Kretakarte beigefügt. Trotz einiger kleiner Mängel ist diese Publikation für diejenigen Leser, die sich ein umfassendes Bild über Kreta in der Zeit des Zweiten Weltkriegs verschaffen wollen, eine empfehlenswerte und lohnende Lektüre.
Loukas Lymperopoulos