Rezension über:

Ulf-Dieter Klemm / Wolfgang Schultheiß (Hgg.): Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Frankfurt/M.: Campus 2015, 546 S., ISBN 978-3-593-50308-0, EUR 29,90
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Rezension von:
Loukas Lymperopoulos
Hamburg
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Loukas Lymperopoulos: Rezension von: Ulf-Dieter Klemm / Wolfgang Schultheiß (Hgg.): Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Frankfurt/M.: Campus 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/27789.html


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Ulf-Dieter Klemm / Wolfgang Schultheiß (Hgg.): Die Krise in Griechenland

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Nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland im Jahr 2010 erschienen in den deutschen Massenmedien unzählige Berichte zu diesem Thema. Fast jede Woche gab es mindestens eine Talkshow im Fernsehen. Selten waren die Beiträge kompetent. Viele Berichte fielen oberflächlich, polemisch oder einseitig aus. Manche Massenmedien nutzten die Gelegenheit aus, Stimmung gegen Griechenland und die Griechen zu machen, um ihre Auflage zu erhöhen.

Das vorliegende Buch möchte einen wissenschaftlichen, sachlichen, kritischen und analytischen Beitrag zu den Ursprüngen, zum Verlauf und zu den Folgen der Krise leisten. Die Herausgeber sind gute Kenner der griechischen Politik und Gesellschaft. Wolfgang Schultheiß war Berufsdiplomat, als Mitarbeiter im Bundespräsidialamt von 2001 bis 2005 außenpolitischer Berater der Bundespräsidenten Johannes Rau und Horst Köhler, anschließend bis 2010 Botschafter in Athen. Ulf-Dieter Klemm lebte sechs Jahre in Athen, bevor er sein Studium in Deutschland aufnahm. In den deutschen Auswärtigen Dienst trat er 1977 ein, er war u.a. als Kulturreferent an der Botschaft in Athen tätig. Von 2008 bis 2011 war er Botschafter in Marokko. Heute arbeitet er als Autor und Übersetzer griechischer Texte.

Das Buch umfasst sieben Einheiten: Verlauf sowie Gründe der Krise, historische Perspektive, äußere Rahmenbedingungen, deutsch-griechische Problemfelder, die "Diskussion über den richtigen Weg" und "Die Krise als Chance: Praktische Ansätze". Es enthält 28 Beiträge, die von 34 Autoren beigesteuert wurden. Gut die Hälfte von ihnen sind Griechen, die entweder in Griechenland oder im Ausland tätig sind. Die anderen Autoren stammen überwiegend aus Deutschland. Jeweils ein Beitrag kommt aus den USA (Griechenland im Zweiten Weltkrieg) und aus Tschechien (zur Frage nach den Reparationen). Die Autoren sind Fachleute und vertreten verschiedene Disziplinen wie Geschichte, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Journalismus und Diplomatie. Auffallend bei der Autorenliste ist die Tatsache, dass einige bekannte Namen nicht dabei sind. Vermutlich wollten die Herausgeber auch anderen Wissenschaftlern die Gelegenheit geben, ihre Sichtweise darzustellen - eine Art "frischer Wind".

Die Beiträge sind fundiert, sachlich und verständlich geschrieben. Sie decken ein breites Spektrum der griechischen Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ab. Es geht um den griechischen Staat seit 1830, die Zahlungsausfälle in der Geschichte Griechenlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert, das politische System seit dem Ende der Militärherrschaft 1974 und Griechenland in der Europäischen Union (Teil III.), ferner um Griechenland im Zweiten Weltkrieg und die Frage der Reparationen sowie die politischen Beziehungen zur Türkei und zur ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und um die Flüchtlingsproblematik bis 2014 (Teil IV. und V.). In den anderen Teilen werden die Krise selbst, die vielfältigen Gründe und der Umgang mit ihr in Griechenland und den anderen EU-Mitgliedstaaten behandelt.

Nach der Lektüre des Buches ist der Leser umfassend informiert. Er kann viele Zusammenhänge besser verstehen und nachvollziehen und mit diesem Hintergrundwissen die Berichterstattung der Medien kritisch betrachten und auswerten. Die Angriffe der Boulevardpresse in Deutschland gegen Griechenland und die Griechen und die entsprechenden Reaktionen der griechischen Boulevardpresse haben das Klima zwischen den beiden Ländern vergiftet. Daher leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Entspannung und Normalisierung der deutsch-griechischen Beziehungen.

Bis jetzt bezog man seine Informationen fast ausschließlich von deutscher Seite. Es ist positiv hervorzuheben, dass viele Beiträge von Griechen stammen. Diese Autoren berichten aus dem Land selbst und nicht nur über das Land. Ein weiterer Vorteil ist die Berücksichtigung vieler Aspekte der griechischen Realität, die in Deutschland weniger bekannt oder weitgehend unbekannt sind, wie z.B. der Klientelismus und die Einstellung der Griechen zu ihrem Staat, die Rolle der Gewerkschaften und ihre Verflechtungen mit den politischen Parteien, die Monopolstrukturen mancher Branchen, aber auch Griechenlands Besetzung im Zweiten Weltkrieg durch die Wehrmacht sowie die Frage der Reparationen.

Ein Nachteil (aber das ist ein grundsätzliches Problem bei Sammelbänden) ist der enge Rahmen, der für die einzelnen Themen zur Verfügung stand. Bei manchen Aufsätzen hätte man sich eine umfangreichere Darstellung gewünscht. Im Beitrag "Die griechische Gesellschaft unter dem Druck der Krise" werden u.a. auch die sozialen Folgen der Austeritätspolitik deutlich. Vielleicht hätte ein gesonderter Beitrag über die Alltagssituation eines Griechen oder einer griechischen Familie das Buch abgerundet. Statistiken und dürre Fakten sind nicht hinreichend geeignet, das schwierige Alltagsleben in allen Facetten zu beschreiben.

Im VI. und VII. Teil werden Vorschläge gemacht, wie die Krise bewältigt werden könnte. Die Problemfelder wie z.B. die Staatsverwaltung oder das Steuersystem sind klar. Über den richtigen Weg (z.B. Grexit) kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich überlasse es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Buch behandelt die Zeit bis etwa Ende 2014. Die weitere Entwicklung seit der Wahl im Januar 2015 und der Bildung einer Regierung unter Führung der linksgerichteten Partei Syriza, die darauf folgenden Auseinandersetzungen mit der EU und das Drama um die Asyl suchenden Menschen aus Kriegsgebieten, die in Griechenland gestrandet sind, mögen Eingang in eine weitere Publikation finden. Sie wäre zu begrüßen.

Loukas Lymperopoulos