Hans-Werner Schmidt / Jan Nicolaisen / Martin Schieder (Hgg.): Eugène Delacroix & Paul Delaroche. Geschichte als Sensation, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015, 383 S., 301 Farb-, 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0271-3, EUR 49,95
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Der hier angezeigte Katalog ist Ergebnis eines Ausstellungs- und Forschungsprojekts von Jan Nicolaisen, Leiter der Sammlungen Malerei und Plastik des Leipziger Museums der Bildenden Künste sowie Martin Schieder, Professor am Kunsthistorischen Institut der Universität Leipzig. Zwei gemeinsame Seminare 2012/13 und ein Internationaler Workshop in Paris am Deutschen Forum für Kunstgeschichte und am Louvre im März 2015 sind vorausgegangen. Zudem konnten viele renommierte und teils - wie Stephen Bann oder Marie-Claude Chaudonneret - seit Jahrzehnten mit der Erforschung der französischen Malerei neben der "Avantgarde" befasste internationale Experten gewonnen werden.
Den Band eröffnet ein aus sieben Aufsätzen bestehender Essayteil. Nicolaisen und Schieder umreißen in ihrem einführenden Beitrag nicht nur die beiden Protagonisten - Eugène Delacroix, geboren 1797, und der nur ein Jahr jüngere Paul Delaroche, die beide auf dem Salon von 1822 debütieren. Im Fokus stehen vor allem die besonderen soziopolitischen Umwälzungen, die Frankreich seit der Revolution bestimmten und auch den jeweiligen Charakter der beiden Künstler formten sowie die Struktur der Kunstwelt und ihrer Akteure in Restauration, Julimonarchie und Zweitem Kaiserreich. Unterstrichen wird die Bedeutung der Salonausstellung, aber auch die "Geschichtsschreibung in Bildern", beispielsweise in der Schlachtengalerie in Versailles, an der beide Maler beteiligt waren. Rekurrierend auf Überlegungen von Thomas Gaehtgens [1] skizzieren die Autoren die Konstruktion nationaler Vergangenheit, welche nach den Erschütterungen der vorherigen Jahrzehnte der Öffentlichkeit Stabilität vermitteln und Sinn stiften sollte. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu künstlerischen Unternehmungen in ganz Europa, welche unter dem Eindruck (neugewonnener) Nationalstaatlichkeit angestrengt wurden. Die von den beiden Autoren angespielten Sujets werden in weiteren Abschnitten des Kataloges aufgegriffen, erläutert und vertieft.
Sébastien Allard beispielsweise konfrontiert die Darstellungsmodi der Maler in mehreren ihrer gefeierten Salonbeiträge der 1820er- und 1830er-Jahre. Themen wie Literatur, Theater und Geschichte faszinierten Publikum und Künstler gleichermaßen und spezifische Strategien wurden entwickelt, welche auf Überzeugung des Betrachters durch scheinbare Faktizität des dargestellten Themas (Delaroche) oder seine emotionale Überwältigung durch malerische Verve und Leidenschaften der Gezeigten (Delacroix) zielten. Als Ergebnis dieser divergierenden Vorgehensweisen präsentieren sich die Werke des einen scheinbar nüchtern-klar, die des anderen dramatisierend vage.
Martin Schieder legt mit seinem Beitrag "Delacroix, Delaroche und die Königsmörder" (44-55) eines der Glanzstücke des Kataloges vor. Konzipiert als close reading konkurrierender Geschichtsentwürfe und ästhetischer Auffassungen kontrastiert der Autor insbesondere die Darstellungen der Konfrontation Cromwells mit dem auf sein Betreiben hin getöteten König von England. Während Delaroche sich auf die Erörterungen des Konservativen Chateaubriand beruft und die authentische Wiedergabe einer historischen Szene reklamiert, inszeniert Delacroix ein atmosphärisch dichtes Drama, ein Zwiegespräch des Militärs, der in der Begegnung mit dem Porträt seines Widersachers melancholisch über die Unversehrtheit des königlichen Bildes im Sinne des "apparitio regis" nachsinnt.
Nach diesen ersten, als These und Antithese argumentierenden Beiträgen folgen drei Aufsätze, die sich unter unterschiedlichen Fragestellungen jeweils einem der Maler widmen. So beleuchtet Thierry Laugée die Auseinandersetzungen Delacroix' mit der Zeitgeschichte, wobei er besonders dessen "Freiheit", das "Massaker von Chios" und "Missolunghi" fokussiert. Konstatiert wird dabei auch die politische Ambivalenz des Malers. Spannende neue Aspekte zeigen sich in Nicolaisens Überlegungen zu "Delaroche als Zeichner", seinen Bildkonzeptionen und -genesen. Hier lässt sich die bemerkenswerte Freiheit des Malers in der Skizze und im Entwurf beobachten, in denen er sich - entsprechend der frühneuzeitlichen Auffassung als prima idea - eine große Freiheit im gestischen Ausdruck erlaubt. In seinen Gemälden hingegen tritt Delaroche weit möglichst hinter die Darstellung zurück, die also durch den Einsatz kalkuliert platzierter Indizien und nüchtern wirkender Faktizität den Betrachter zum Leser werden lässt. An diesem Punkt setzte auch die bereits in den 1850ern artikulierte Kritik am vermeintlichen "Realisten" Delaroche an, dessen markante Inszenierungsstrategien dem "Maler des modernen Lebens" vermeintlich nicht mehr entsprachen. Altmeister Stephen Bann zeichnet in seiner Analyse nach, dass der Maler in Hinblick auf seine marktstrategische Positionierung tatsächlich auf der Höhe der Zeit agierte. Dies nicht zuletzt durch seine Verbindung mit dem Kunsthändler Goupil, welche die massenmediale Popularisierung seiner Arbeiten und deren internationale Verbreitung beförderte. Die Internationalität von Delaroche unterstreicht auch die erhellende Betrachtung von France Nerlich zur Rezeption der beiden Maler in der deutschen Kunst und Kunstkritik der Zeit. Die Bewunderung der Zeitgenossen galt dabei häufig eher dem Jüngeren, dessen narrativer Darstellungsmodus beispielsweise die Generation um Piloty und Kaulbach besonders ansprach.
Den Essays folgt ein Katalogteil, der die ausgestellten Werke in acht thematischen Kategorien präsentiert. Die letzte Abteilung, "Das Animalische", die - wenig überraschend - nur durch Werke Delacroix' repräsentiert ist, mag diskutabel sein, macht aber zugleich auch die Differenz der beiden Künstlerpersönlichkeiten nachdrücklich deutlich. Hervorzuheben ist, dass sich der fruchtbaren Kooperation zwischen Museum und Universität auch eine Reihe der durchweg hervorragenden Beiträge zu den rund hundert Exponaten verdankt, die von Studierenden verfasst wurden. Sämtliche Artikel sind kommentiert und durch Literaturhinweise ergänzt, qualitätvolle Farbabbildungen runden den exzellenten Eindruck ab. Eine Konkordanz von Biografien und Zeitgeschichte, die neuerlich erstaunliche Parallelen zutage bringt, sowie eine umfassende Bibliografie schließen diesen Hauptabschnitt.
Im Buch folgt ein zweiter Teil (340-378) mit dem Essay "Bürgerliches Mäzenatentum in Leipzig" zur Sammlung Adolph Heinrich Schletter von Kristin Bartels, einem Verzeichnis dieser im Leipziger Museum befindlichen Kollektion von Bartels und Peter Sondermeyer sowie einem Literaturverzeichnis zu dieser Sammlung. Anlass hierzu bot die Tatsache, dass Schletter bereits 1845 mit "Napoleon I. in Fontainebleau am 31. März 1814" eines der Prunkstücke der hier angezeigten Ausstellung erwarb, das als pars pro toto Delaroches Ästhetik verkörpert.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass hier die Werke zweier Maler nebeneinander gestellt werden, die schon von Zeitgenossen als Antipoden wahrgenommen worden sind; Heinrich Heine fungiert auch in diesem Katalog immer wieder als Kronzeuge. Thematisiert wird so die Doppelgesichtigkeit der Malerei des 19. Jahrhunderts, einer "Epoche, beherrscht vom steten Wechselspiel der Kräfte zwischen Revolution und Restauration" (10). Die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" aufzeigen zu wollen und dies "bar eines wertenden ästhetischen Urteils" postuliert Hans-Werner Schmidt, Direktor des Leipziger Museums, in seiner Einleitung als Ziel der in seinem Haus ausgerichteten, beeindruckenden Ausstellung. Er konstatiert, die aus dieser ästhetischen Konfrontation von Delacroix und Delaroche "sich ergebenden Konflikte [können] als Parabel in einer Kunstgeschichte verstanden werden, in der eine kämpferische Kunstkritik Regie führt" (11).
Der Katalog schließt insgesamt an Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte an - die "Fiktion des Faktischen" und die hierfür instrumentalisierten Strategien beleuchteten bereits Barthes mit seinen Beobachtungen zum "effet du réel" und insbesondere Hayden Whites Arbeiten zur Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sowie Stephen Banns Überlegungen zu Delaroche. [2] Obwohl solche Fragestellungen seit den 1980er-Jahren und insbesondere mit Eröffnung des Musée d'Orsay den Diskurs um die akademische Malerei jener Epoche prägen [3], muss die Heterogenität der Zeit bis heute immer wieder neu betont werden. Die vorliegende Publikation leistet hierzu einen wichtigen Beitrag, der zweifelsohne weitere Forschungen anstoßen wird.
Anmerkungen:
[1] Thomas W. Gaehtgens: Versailles als Nationaldenkmal: Die Galerie des Batailles im Musée Historique von Louis-Philippe, Berlin 1985.
[2] Roland Barthes: "L'effet de réel", in: Communications 11 (1968), 84-89; Hayden White: Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-century Europe, Baltimore / London 1973; Stephen Bann: The Clothing of Clio, Cambridge / London / New York u.a. 1984; sowie ders.: Paul Delaroche: History Painted, London 1997.
[3] Vgl. dazu die Darstellungen von Jacques Thuillier: Peut-on parler d'une peinture 'pompier'?, Paris 1984; Neil McWilliam: "Limited Revisions: Academic Art History confronts Academic Art", in: Oxford Art Journal 12 (1989), Nr. 2, 71-86.
Ekaterini Kepetzis