David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933-1938 (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 24), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 440 S., ISBN 978-3-525-37039-1, EUR 70,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gilbert Achcar: The Arabs and the Holocaust. The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives, New York 2010
Hannes Burkhardt: Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram, Göttingen: V&R unipress 2021
Karen Auerbach: The House at Ujazdowskie 16. Jewish Families in Warsaw after the Holocaust, Bloomington, IN: Indiana University Press 2013
Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah. Aus dem Polnischen von Sven Sellmer, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020
Patrick Montague: Chelmno and the Holocaust. A History of Hitler's First Death Camp, London / New York: I.B.Tauris 2012
David Jüngers Studie ist ein exzellentes Beispiel dafür, welche Bedeutung es haben kann, sich mit neuer Fragestellung und bisher wenig berücksichtigtem Quellenmaterial vermeintlich "ausgeforschter" Themen anzunehmen. Denn zweifellos, so zeigt Jünger in einer einleitenden, konzisen Literaturschau, mangelte es in den vergangenen Jahrzehnten nicht an Publikationen, die sich mit Planung, Durchführung, Verweigerung und Scheitern der Emigration deutscher Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland auseinandersetzen. Gleichzeitig kann er nachweisen, dass die Forschungsliteratur dabei insbesondere auf zwei Fragekomplexe fokussiert: Zum einen handelt es sich um eine Verkürzung des Entscheidungsspielraums der betroffenen Zeitgenossen auf die Frage "entweder Bleiben oder Gehen". Zum anderen rückte mit dem Ende des Weltkriegs und dem Wissen um die Ausmaße des Holocausts mehr oder weniger explizit die Frage in den Mittelpunkt, warum die deutschen Juden die drohende Gefahr nicht erkannt und sich nicht rechtzeitig zur Emigration entschlossen hatten. Solche Fragen nach vermeintlich erklärungsbedürftigen Handlungsweisen ergeben sich beinah zwangsläufig, wenn die Geschichte der Emigration deutscher Juden zwischen 1933 und 1938 ausschließlich aus der Perspektive der nachfolgenden Jahre betrachtet und damit gleichsam ausschließlich als Vorgeschichte des Holocausts gedeutet wird. Zurecht weist Jünger darauf hin, dass sämtliche Antworten auf diese Fragen scheitern müssen, allein aus dem Grund, weil die Zeitgenossen schlichtweg nicht auf die Kenntnisse zurückgreifen konnten, die heute so zentral für die Nachgeborenen sind.
Es ist dementsprechend nur konsequent, dass Jünger für seine Arbeit ausschließlich zeitgenössische Quellen heranzieht, um darzulegen "wie sich die deutschen Juden mit der Frage der Emigration im Privaten auseinandersetzten, wie in der jüdischen Öffentlichkeit darüber diskutiert wurde und wie die großen jüdischen Organisationen den Emigrationsprozess planten und organisierten" (13). Er verzichtet somit auf sämtliche nachträglich verfassten Zeitbeschreibungen und Autobiografien und zieht stattdessen zeitgenössische Aufzeichnungen heran, die er vier Untersuchungsebenen zuordnet. Neben den öffentlichen Emigrationsdebatten, die in den jüdischen Periodika geführt wurden, handelt es sich dabei um die Auswanderungsplanung jüdischer (Hilfs-)Organisationen sowie um Konzepte, die langfristig auf eine Auswanderung sämtlicher deutscher Juden angelegt waren und oftmals auf die Initiativen prominenter Personen, wie Max Warburg oder Arthur Ruppin zurückgingen. Die vierte Ebene bilden persönliche Aufzeichnungen, insbesondere Tagebucheinträge, die verdeutlichen, welchen Einfluss die Auseinandersetzung über eine mögliche Emigration auf die individuelle Lebensplanung hatte. Diesen vier Analyseebenen geht Jünger in drei Großkapiteln nach, die sich jeweils zwei Jahren des Untersuchungszeitraums widmen. Wenngleich diese zeitliche Einteilung eher konventionell anmutet, gelingt es dem Autor, die zeitgenössischen Perspektiven zu rekonstruieren - und damit der Forschung wichtige Impulse zu geben. So kann Jünger nachweisen, dass der 30. Januar 1933 zwar einen tiefen Einschnitt in der Wahrnehmung der deutschen Juden brachte - ihm aber von den Zeitgenossen längst nicht der Zäsurcharakter zugeschrieben wurde, wie dies rückblickend nach 1945 geschah. Gerade in den ersten Jahren unter nationalsozialistischer Herrschaft griffen jüdische Organisationen wie Privatpersonen auf die politischen und sozialen Erfahrungen der Weimarer Republik zurück und bemühten sich, durch Eingaben, Gerichtsverfahren und private Kontakte um eine Verständigung mit den neuen Machthabern. Erst die Konsolidierung der nationalsozialistischen Diktatur und die sich zunehmend verstärkenden Ausgrenzungsmechanismen gegenüber der jüdischen Bevölkerung beendeten im Verlauf der 1930er Jahre diese "Verlängerung der Weimarer Zeit" (25).
Auch zu der oftmals thematisierten Frontstellung zwischen Liberalen - allen voran der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) als größte deutsch-jüdische Organisation - und Zionisten - repräsentiert durch die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) - kann der Autor in Bezug auf die Emigrationsfrage Erhellendes beisteuern. Denn obgleich der CV sich nominell der Weiterexistenz jüdischen Lebens in Deutschland verpflichtet sah, unterstützten zahlreiche führende Mitglieder doch Organisationen, die deutschen Juden die Auswanderung ermöglichen sollten und erkannten frühzeitig an, dass gerade der Jugend neue Lebensmöglichkeiten außerhalb Deutschlands eröffnet werden müssten. Und auch die Zionisten waren weit davon entfernt, eine Emigration sämtlicher deutscher Juden zu forcieren. Dies galt insbesondere für die Auswanderung nach Palästina, für welche die ZVfD zunächst nur überzeugte Zionisten vorsah, die aufgrund ihres Alters und ihrer Berufswahl in der Lage schienen, das jüdische Aufbauwerk zu befördern. Für beide Strömungen, trotz ihrer grundverschiedenen ideologischen Ausrichtungen, war eine Emigration sämtlicher Juden aus Deutschland vor allem eines - utopisch.
Der Studie gelingt es, diese Überschneidungen und Widersprüche, die sämtliche Emigrationsdebatten begleiteten, nicht als Paradoxa zu disqualifizieren, sondern als symptomatisch für jene "Jahre der Ungewissheit" zu deuten. Dies wird nicht zuletzt auch am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen von Victor Klemperer und Willy Cohn deutlich, auf die sich die Analyse der individuellen Lebensplanung im Besonderen stützt. Aufgrund der dichten Überlieferungen ihrer Zeitbetrachtungen wird bei beiden Chronisten klar erkennbar, wie nah - häufig nur Tageseinträge voneinander entfernt - die Erwägungen, zu bleiben oder zu gehen, beieinander lagen.
Jüngers quellengesättigte, flüssig geschriebene Studie ist ein wichtiger Beitrag zur jüdischen Geschichte, zur Geschichte des Nationalsozialismus und zur Emigrationsforschung. Denn trotz einer dezidiert "deutsch-jüdische[n] Perspektive" (25) hebt der Autor immer wieder hervor, dass die Emigrationsplanungen und -debatten, die Entscheidungen auszuharren, auszuwandern oder zurückzukehren, zu keinem Zeitpunkt allein in der Entscheidungsgewalt der jüdischen Minderheit in Deutschland lagen. Stattdessen waren es, wie Jünger schlüssig aufzeigt, die schrittweise Verschärfung der Ausgrenzungs- und Vertreibungsmechanismen der nationalsozialistischen Behörden ebenso wie die zunehmend restriktive Einwanderungspolitik potentieller Emigrationsländer, die charakteristisch für jene ungewissen Jahre waren.
Anna Ullrich