Rezension über:

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München: C.H.Beck 2016, 508 S., 58 Farb-, 45 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69607-7, EUR 26,95
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Rezension von:
Klaus Unterburger
Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Unterburger: Rezension von: Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/29380.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "500 Jahre Reformation - I" in Ausgabe 17 (2017), Nr. 10

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte

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Thomas Kaufmann hat zum Jubiläumsjahr eine Gesamtdarstellung der Reformation vorgelegt, die erklären will, wie vom "traditionslosen deutschen Universitätsstädtchen" Wittenberg, vom Kampf des um sein Leben schreibenden Augustinereremiten Martin Luther gegen die Papstkirche, ein europäisches Ereignis, eine beispiellose Wirkungsgeschichte, ausgelöst worden ist. Eine These seines Lehrers Bernd Möller wird dabei fortgeschrieben: Keine der reformatorischen Bewegungen in den europäischen Ländern ist ohne Luther, aus einer spätmittelalterlichen Reformdynamik heraus, zu erklären (18, 83), auch wenn natürlich viele Traditionen des Spätmittelalters in die Reformation eingeflossen seien. Nach einem souveränen Panorama der Christenheit um 1500 behandelt das erste große Kapitel deshalb Luther und die frühe reformatorische Bewegung. Diesem Anfang wohnt für Kaufmann "ein Zauber inne" (425-427), der noch in der Gegenwart nicht ganz eingelöst sei; es folgt im zweiten großen Teil das internationale Panorama, die Ausformung der Reformation in Europa und über Europa hinaus.

Zwei Schlusskapitel diskutieren dann die Frage nach dem Zusammenhang von Reformation und westlicher Moderne und entfalten die Forschungsgeschichte zu Luther und der Reformation bis in das wiedervereinigte Deutschland nach 1989 hinein, zwei Themenbereiche, bei denen Kaufmann ebenfalls auf eigene viel rezipierte Forschungssynthesen zurückgreifen konnte. Kaufmann erklärt zunächst, wie Martin Luther innerhalb weniger Jahre eine "analogielose" Autorität zugewachsen ist. Ihm blieb, von Cajetan dazu gezwungen, so Kaufmann, nur der Gang an die Öffentlichkeit. Die bislang unvorstellbare Verbreitung seiner Schriften machte die Reformation nicht nur zum Medienereignis, sondern ließ eine Dynamik entstehen, die weltgeschichtlich analogielos war und Luther das Leben rettete. Es sei der Bruch mit der Papstkirche, ihrem kanonischen Recht und dem in ihrer Ablasspraxis zum Ausdruck kommende Anspruch auf exklusive Heilsvermittlung gewesen, also die persönliche Heilsgewissheit aus dem Gotteswort des Evangeliums, welcher über den Buchdruck ein "Lateineuropa" umgestaltendes (dabei auch ein laikales) Ereignis wurde. Bei aller Eigendynamik der Aneignung und allen bald einsetzenden Zerwürfnissen, Prozesse, die Kaufmann mit souveräner Gelehrsamkeit zu schildern vermag, blieb Luther der prägende Ausgangspunkt dieser enormen, medial-kommunikativen Verdichtung und Umgestaltung.

Im Vergleich zu diesen forschungsgesättigten Entfaltungen erscheinen die knappen Ausführungen zur "Transformation des römischen Katholizismus" (317-325) doch fragwürdiger. Die enormen Spannungen an der römischen Kurie, innerhalb derer der Konzilspapst Pius IV. als Ketzer angeklagt werden sollte, kommen nicht in den Blick; die undifferenzierte Rede von den nachtridentinischen Reformpäpsten scheint antiquiert; die Bedeutung des Tridentinums ist überbewertet und müsste in mehreren Punkten diskutiert werden. Überhaupt wird die Reformation in Italien, aber auch in anderen katholisch gebliebenen Territorien wie etwa den Habsburger Gebieten, kaum behandelt, obwohl man doch gerade beim "evangelismo" in Italien eine von Wittenberg her zentrierte Prägung hinterfragen könnte. Vor allem aber ist die Darstellung der Reformation an einer Hintergrundfolie, der mittelalterlichen Papstkirche als uniformer "sakraler Heilsinstitution", gewonnen (vgl. 195, 197, 346, 360, 362 u.ö.), die es doch kritisch in Frage zu stellen gilt. Voraussetzung dafür ist, normative kanonische Texte mit ihren theoretischen Ansprüchen von der faktischen Realität zu unterscheiden. Die mittelalterliche Kirche war ja doch kein zentralistisch-uniformer, globaler, papstzentrierte Einheitsblock mit einer klaren, hierarchisierenden Scheidung zwischen Klerus und Laien, so sehr das papale Kirchenrecht diese Sicht nahelegen mag (vgl. Kaufmann selbst 116). Laikale Kirchen- und Klostergründungen waren vielmehr die Regel und damit ein zumindest partiell laikales Kirchenregiment; effektive, überlokale bischöfliche oder päpstliche Kontrolle gab es kaum. Zwischen Klerus und Laien gab es viele Misch- und Zwischenformen. Eine konsequente Respektierung von klerikalen Gerichts- und Steuerimmunitäten blieb eine kaum realisierte Forderung der geistlichen Seite seit dem Hochmittelalter, ebenso die erstmals 1215 allgemein eingeforderte jährliche Beichte aller Gläubigen. Nicht eine Einheitswelt zerbrach, sondern die Konfessionalisierung war Teil einer längerfristigen Uniformierungsdynamik. Von hier aus müsste doch die Deutung der Reformation als Prozess der Differenzierung und Entsakralisierung noch einmal diskutiert werden.

Es ist nicht nur die Kaufmann eigene Verbindung von Gelehrsamkeit auf der einen, Prägnanz der Darstellung, synthetische Durchdringung und makrohistorische Einordnung auf der anderen Seite, die die Stärke seiner Reformationsdeutung ausmachen. Bei aller Historisierung ist es auch das Sichtbarwerden einer Dynamik, die von Luther mittels des Buchdrucks, angesichts der Bedrohungserfahrung durch römischen Katholizismus und muslimische Osmanen, ausging, die sein Buch eindrücklich vor Augen führt: "Der Kern der 'Modernität' der Reformation" sei "die Erfahrungen zweier Generationen fortführender Nutzung des Printmediums", was zu einer ungekannten Beschleunigung geführt habe (354). Auch die gegenüber Luther alternativen Formen der Reformation, Calvin oder die radikalen, antietatistischen dissenters, werden aus einer sich um Verstehen bemühenden Innenperspektive heraus in ihren Anliegen, Leistungen und Stärken zur Darstellung gebracht. Die sich ausbildenden protestantischen Konfessionskulturen historisch, in ihrem Selbstverständnis zu charakterisieren und sie nicht vorschnell angesichts vermeintlicher Erfordernisse einer Gegenwartsaktualität zu verwerfen oder umzudeuten, ist ein zentrales Anliegen der Darstellung, wobei solche historisierend um Verstehen sich bemühende Sympathien gerade auch Phänomenen wie dem fundamentalistischen Widerstand gegen die kaiserliche Interimspolitik durch die Stadt Magdeburg (291-295) gelten.

Erinnerungsgeschichtlich - so Kaufmann - ist aber die "frühe Reformation so etwa wie der Mythos des neuzeitlichen Protestantismus geworden" (426), auf den immer wieder als idealisierter, normativer Beginn rekurriert wurde. Vielleicht wird man die Bedeutung vorkonfessioneller Traditionen und Dynamiken für diese doch als wirkmächtiger einschätzen, als dies Kaufmann tut; die Gewichte von langfristigen Entwicklungstendenzen und unableitbaren konkreten Wittenberger Anstößen könnten sich dann verschieben. Die souveräne, kenntnisreiche und durchdachte Darstellung des Gesamtphänomens der Reformation wird dennoch für lange Zeit ein unverzichtbares Referenzwerk bleiben, eine Synthese herausragender Forschungsleistungen ihres Verfassers, eine Herausforderung, für unhistorische Formen aktualisierenden Reformationsgedenkens.

Klaus Unterburger