Judith Becker / Bettina Braun: 500 Jahre Reformation - I. Einführung, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Judith Becker / Bettina Braun
Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass runde Geburtstage historischer Ereignisse eine Jubiläumsmaschinerie in Gang setzen, die stets sowohl das breite Publikum erreichen als auch zu wissenschaftlicher Erkenntnis beitragen soll und sich dafür der unterschiedlichsten Medien von Fernsehen über Ausstellungen und Tagungen bis hin zu Buchpublikationen bedient, um hier nur die traditionellen Medien zu nennen. Auch das FORUM der sehepunkte spiegelt immer wieder diese Tendenz. Dennoch: Die fünfhundertste Wiederkehr der Publikation der 95 Thesen durch Martin Luther sprengt zumindest für den deutschen Bereich jede bisher bekannte Dimension. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es in diesem Fall nicht nur darum geht, sich eines längst vergangenen Ereignisses oder einer schon vor langem verstorbenen Person zu erinnern, sondern dass eine wichtige gesellschaftliche Institution - die protestantische[n] Kirche[n] - mit diesem Jubiläum an ihre Anfänge erinnert. Ob das ein Anlass zum Feiern und zur Selbstvergewisserung [1] oder aber eher zum kritischen Gedenken [2] ist, darüber ist im Vorfeld dieses Jubiläums vielfach gestritten worden. Eines aber scheint in Deutschland nicht strittig gewesen zu sein, nämlich dass es sich um ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung handelt. Dass die EKD zu dieser Bewertung neigt, nimmt nicht wunder. Aber auch staatliche Stellen haben sich ganz offensichtlich von der überragenden Bedeutung des Jubiläums überzeugen lassen und den 31. Oktober 2017 zum bundesweiten Feiertag erklärt, der sonst nur in einigen Bundesländern gefeiert wird.
Das ist insofern erstaunlich, als damit ein Ereignis in den Mittelpunkt gerückt wird, dessen Historizität seit gut einem halben Jahrhundert bestritten worden ist [3], auch wenn zuletzt wieder Argumente für die Ansicht vorgebracht wurden, dass Martin Luther seine Thesen tatsächlich an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hat. Aber anders als bei früheren Centenarfeiern wird heute niemand mehr das Bild verbreiten wollen, dass am 31. Oktober 1517 ein unbekannter Mönch aus dem mittelalterlichen Dunkel seines Klosters mit ein paar Hammerschlägen in das helle Licht der Weltgeschichte getreten ist, die mächtigste Institution der damaligen Zeit, die römische Kirche, herausgefordert und damit einen entscheidenden Schritt Richtung Moderne getan habe. Obwohl dieses heroische Setting in fast allen seinen Bestandteilen dekonstruiert worden ist, ließ sich offensichtlich kein anderes Ereignis finden, das den Beginn der Reformation in gleicher Weise symbolisiert.
Das ist jubiläumstechnisch verständlich, der Tendenz der neueren Forschung aber läuft diese Fokussierung auf ein Ereignis und eine Person als Beginn der Reformation und der Moderne entgegen. Statt eine Urszene der Reformation wie das sogenannte Turmerlebnis oder den Thesenanschlag zu postulieren, wurde zuletzt mehr die Verbindung Luthers zur spätmittelalterlichen Tradition betont. Am prominentesten wird diese Auffassung von Volker Leppin vertreten. Bereits in seiner Luther-Biographie aus dem Jahre 2006 hatte er den Reformator in der spätmittelalterlichen Tradition verankert. Diese Sicht konturiert er nun noch deutlicher, indem er vor allem die Bedeutung der Mystik und hier insbesondere Johannes Taulers für die Theologie Luthers herausarbeitet. Für das Verständnis der Reformation bedeutet dies, eher die Transformation spätmittelalterlichen Gedankenguts als den radikalen Neuanfang zu betonen. Nur auf den ersten Blick im Widerspruch dazu steht die Darstellung von Heinz Schilling "1517. Weltgeschichte eines Jahres". Denn anders als der Titel vielleicht vermuten lässt, steht 1517 nicht deshalb im Mittelpunkt, weil mit diesem Jahr alles anders wurde, sondern weil mit diesem darstellerischen Kunstgriff Luther in der damaligen Welt - und Schilling geht es wirklich um die ganze Welt - verortet werden soll. Damit treten aber auch hier die Bedingtheiten der durch Luther ausgelösten Bewegung in den Vordergrund, die "Transformation der Periode um 1517", wie Olaf Mörke in seiner Rezension schreibt, und nicht etwa eine geradezu urwüchsige Eruption. Die Kontextgebundenheit von Luthers Thesen und die Verbindung zum Spätmittelalter betont der von Andreas Rehberg herausgegebene Sammelband "Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext" schon im Titel. Zu konstatieren ist mithin der etwas irritierende Befund, dass gerade die Publikationen, die sich mit den Anfängen der Reformation, also 1517 im engeren Sinne, beschäftigen, deren Bedeutung eher relativieren als bestätigen. Man kann diesen Befund freilich auch positiv wenden und durchaus beruhigt feststellen, dass die Faszination runder Jahreszahlen offenbar doch nicht so groß ist, dass die Forschung ihr blind erliegen und schlichte Jubiläumsaffirmation betreiben würde.
Zu den Fragen, die im Vorfeld des Jubiläums kontrovers diskutiert wurden, gehörte die, ob es sich bei dem Jubiläum 2017 um ein Reformations- oder ein Lutherjubiläum handle. Schon die Kampagne der EKD zeigte sich diesbezüglich unentschieden. Zwar war von einer Reformationsdekade die Rede, als Logo jedoch ist das Konterfei Luthers zu sehen. Nun ist 2017 anders als die an die Lebensdaten Luthers geknüpften 83er und 46er Jubiläen kein eigentliches Lutherjahr. Freilich ist die Thesenpublikation untrennbar mit dem Namen Luthers verbunden. Lässt man die anlässlich des Jubiläumsjahres im deutschen Sprachraum erschienenen Publikationen Revue passieren, bewahrheitet sich die von manchen geäußerte Sorge einer zu engen Fokussierung auf Luther nicht. Das mag zum Teil daran liegen, dass mit Heinz Schillings und Volker Leppins Luther-Biographien die im Moment und wohl noch für einige Zeit gültigen Referenzwerke bereits 2012 respektive 2006 erschienen sind. Selbstverständlich sind auch zum Jubiläumsjahr Luther-Biographien erschienen, unter anderem das aus römischer Perspektive geschriebene Werk Volker Reinhardts. Aber ihre Zahl hält sich doch in Grenzen. Dennoch: Sucht man nach Arbeiten zu anderen Reformatoren, ist weitgehend Fehlanzeige zu melden. Die Publikationen zu Melanchthon gehören nicht eigentlich in den Kontext des Jubiläumsjahres 2017, sondern sind Neuauflagen früherer Werke oder verspätet erschienene Früchte des Melanchthonjahres 2010. Zu Calvin wiederum wurde anlässlich seines vierhundertsten Geburtstages 2009 ausgiebig publiziert. Hier zeigt sich die Kehrseite der Orientierung an den runden Geburtstagen, die eine parallele biographische Beschäftigung mit den Protagonisten eher verhindert. Insgesamt ist das biographische Element in den Jubiläumspublikationen schwach vertreten, was angesichts des auf dem Buchmarkt sonst florierenden biographischen Genres verwundert.
Auch wenn man sich die - erstaunlich wenigen - Gesamtdarstellungen der Reformation anschaut, wird man feststellen können, dass diese deutlich weniger lutherzentriert sind, als es für deutsche Reformationsgeschichten lange Zeit üblich war. So enthalten solche Darstellungen regelmäßig relativ ausführliche Kapitel über den sogenannten linken Flügel der Reformation, die diesen nicht sofort unterschwellig oder explizit abwerten, sowie über die schweizerische Reformation, auch wenn diese Darstellungen sich als Geschichte der Reformation in Deutschland verstehen. Dies fällt insbesondere bei einem Vergleich des von Thomas Kaufmann jetzt vorgelegten Werks "Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation" mit seiner 2009 publizierten "Geschichte der Reformation" ins Auge.
Die Reformation bedurfte aber nicht nur der theologischen Impulsgeber, sondern sie musste in vielen kleinteiligen Prozessen in der Fläche durchgesetzt werden - oder sie setzte sich eben nicht durch. Die landes- und regionalgeschichtliche Erforschung dieser Prozesse gehört seit langem zu den fruchtbaren Feldern der Reformationsgeschichte. Standen im Gefolge von Bernd Moellers "Reichsstadt und Reformation" ungefähr ein Vierteljahrhundert lang die Reformationsvorgänge in den Städten im Mittelpunkt des Interesses, werden seit einiger Zeit verstärkt unterschiedliche Regionen und Territorien untersucht. Dabei konzentriert sich die Forschung längst nicht mehr nur auf die sogenannten Kernlande der Reformation wie Sachsen oder Hessen. Mit der Hinwendung zu Regionen wie dem Oberrheingebiet, Westfalen im Allgemeinen oder dem Osnabrücker Land im Speziellen geraten zwangsläufig auch andere Fragen in den Blick, zum Beispiel nach den Ursachen für Durchsetzung oder Scheitern der Reformation oder nach dem Zusammenleben der Konfessionen. Die Schweiz bildet den räumlichen Hintergrund für eine der ganz wenigen Publikationen, die explizit Frauen in den Mittelpunkt stellen, wobei in dem vorliegenden Band freilich ein vergleichsweise traditioneller frauengeschichtlicher Ansatz verfolgt wird, indem mehr oder weniger berühmte Frauen vorgestellt werden. Das ist insofern symptomatisch, als genuin gendergeschichtliche Arbeiten im Umkreis des Jubiläumsjahres bisher nicht vorgelegt wurden.
Fester Bestandteil jedes Jubiläums sind Ausstellungen, die - im Idealfall - die Erkenntnisse der Forschung für ein breiteres Publikum aufbereiten und visualisieren. Ihnen kommt ein zentraler Stellenwert als Medium der Geschichtspolitik und der Vermittlung von Geschichtsbewusstsein zu. Angesichts der Dimension des Reformationsjubiläums ist auch die Zahl und Vielfalt der Ausstellungen geradezu unüberschaubar. Dabei ist die Vielfalt durchaus Programm, da auf eine einzige, große Nationalausstellung bewusst verzichtet wurde. Dennoch gibt es selbstverständlich Ausstellungen von überregionaler, nationaler Bedeutung - allein 2017 gleich drei "nationale Sonderausstellungen" und solche wie die bereits 2015 in Torgau gezeigte Ausstellung "Luther und die Fürsten". Anderes erscheint hingegen verzichtbar, zumal wenn die Reformation nur als - vermeintlich publikumswirksamer - Aufhänger benutzt wurde wie Andreas Flurschütz de Cruz dies für die Ausstellung "Luther und die Hexen" vermutet. Dass auch Ausstellungen Moden folgen, zeigt die Ausstellung "Bibel Thesen Propaganda. Die Reformation in 95 Objekten", die an das von Neill Mac Gregor entwickelte und seither mehrfach kopierte Konzept anknüpft, die "Geschichte der Welt in 100 Objekten", die sich im British Museum befinden, zu erzählen. Unter elegantem Bezug auf Luthers Thesen beschränkte sich die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz auf 95 Objekte, bei denen es sich freilich anders als bei dem Originalprojekt durchgehend um Druckwerke handelt. Nicht in dieser Ausgabe der sehepunkte besprochen wird der Katalog zur Ausstellung "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen", die zurzeit noch in Wittenberg läuft und eine der drei nationalen Sonderausstellungen bildet. Die Auswahl von Objekten anhand bestimmter Zahlen boomt.
Für eine Bilanz der wissenschaftlichen Erträge des Reformationsjubiläums ist es noch zu früh. Es scheint sich aber abzuzeichnen, dass es keine einheitliche und vor allem keine nationale Stoßrichtung der Publikationen und der Jubiläumsaktivitäten gibt, wie sie vielfach für die vergangenen Jubiläen identifiziert werden kann. In Deutschland wird die Reformation bei vielen Jubiläumsaktivitäten als Impulsgeberin für Freiheit und Individualisierung dargestellt - dies ist in der Wissenschaft freilich umstritten, so auch in dem von Udo di Fabio und Johannes Schilling herausgegebenen Band. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Forschung beschäftigt sich mit der historischen Erforschung von Reformationsjubiläen, so exemplarisch auch der Band "Luther als Vorkämpfer". Dennoch ist im Moment kein vorherrschendes Forschungsparadigma zu erkennen, an dem sich die Forschung in Zustimmung oder Ablehnung abarbeitet; die großen methodischen Diskussionen in den historisch arbeitenden Disziplinen kreisen zurzeit sicher nicht um die Geschichte der Reformation. Man kann das diffus nennen und bedauern oder aber als plural bezeichnen und damit angemessen finden.
Anmerkungen:
[1] So die anfangs in der EKD wohl vorherrschende Perspektive. Rochus Leonhardt: Die Reformation und ihre wirkungsgeschichtliche Dimension, in: Irene Dingel (Hg.): Kirchengeschichte - 500 Jahre Reformation (= Verkündigung und Forschung 62 (2017), Heft 2), 105-120, hier 107.
[2] So die katholische Perspektive angesichts der konfessionellen Spaltung, vgl. z.B. den Vortrag des damaligen Bischofs von Erfurt, Joachim Wanke, vom 28.11.2011, die zentrale Passage zitiert bei Margarethe Hopf: 2017 in der Ökumene - katholische und freikirchliche Perspektiven, in: Irene Dingel (Hg.): Kirchengeschichte - 500 Jahre Reformation (= Verkündigung und Forschung 62 (2017), Heft 2), 146-154, hier 147.
[3] Erwin Iserloh: Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Münster 1966.