Werner Freitag: Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz, Münster: Aschendorff 2016, 383 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-13167-1, EUR 29,80
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Der Münsteraner Professor für westfälische Landesgeschichte und engagierte Projektleiter im Exzellenzcluster "Religion und Politik" legt einen souveränen, gut lesbaren Überblick zur Reformationsgeschichte Westfalens vor, der die älteren, noch katholisch geprägten Darstellungen von Schröer [1] und anderen durch eine geschichtswissenschaftliche "konfessionsneutrale" Haltung ersetzt. Dies ist hochwillkommen, kann man nun doch Studierenden und der interessierten Öffentlichkeit eine vergleichende Sicht näherbringen, die alte Deutungsmuster und Grenzsetzungen hinter sich lässt. Die einem undogmatischen Konfessionalisierungsansatz folgende Darstellung zeichnet sich insbesondere durch eine Berücksichtigung einer Perspektive von unten, das heißt der kleinstädtischen und dörflichen Gemeinden, aus. Die Kapiteleinteilung setzt zwar Schwerpunkte in der Beschreibung der kirchlichen Verhältnisse in den einzelnen Territorien Westfalens. Dazwischen werden jedoch zahlreiche Abschnitte über Strukturprobleme wie ländliche Pfarrorganisation, Frömmigkeitsformen, Liturgiereformen oder Bikonfessionalität eingestreut, die ein lebendiges Bild des Reformationsjahrhunderts liefern.
In einem chronologischen Abriss beginnt Freitag mit der unmittelbaren Reformationsdekade und konstatiert, Westfalen habe nur eine verspätete Reformation zu verzeichnen, da es kaum unmittelbare Reaktionen auf die Schriften Luthers und anderer Reformatoren bis 1540 gegeben hat. Die folgenden Kapitel widmen sich erfolgreichen (Herford, Höxter, Lemgo, Lippstadt, Minden, Münster, Soest) und gescheiterten (Paderborn, Osnabrück, Münster nach 1535) Stadtreformationen, wobei dem Münsteraner Täuferreich ein gesondertes Unterkapitel vorbehalten ist. Daran schließt sich eine Darstellung der ersten landesherrlichen Reformationen im Fürstbistum Osnabrück, dem Herzogtum Westfalen und mehreren kleinen westfälischen Grafschaften (Bentheim, Lippe, Rietberg, Steinfurt, Lingen) an. Die in vielen Motiven ambivalente Haltung der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg zur Religionsfrage wird knapp geschildert, ebenso die fast parallelen Entwicklungen der Entstehung lutherischer und reformierter Gemeinden in der Grafschaft Mark in den 1550er bis 1570er Jahren. Die von Düsseldorf aus mitbeeinflussten Stadtreformationen in Dortmund und Essen (beide dem Typus der Hansestadt-Reformation folgend) werden ebenfalls nur knapp dargestellt. Drei längere Kapitel schildern umfangreich die Alltagssituation in den Pfarrgemeinden und beziehen auch die Änderungen im reformatorischen Liedgut und der Katechese ein - sicher die gelungensten Teile des Buches. Ausführlich werden auch die etablierten oder neuformierten katholischen Alltagsphänomene wie Wallfahrten, Predigten, Rolle des Pfarrers im Dorf etc. erläutert. Zwei abschließende Kapitel gelten den Konflikten zwischen Lutheranern und reformierten Calvinisten in der zweiten Jahrhunderthälfte sowie den Formen bikonfessioneller Koexistenz. Letztere reichen von heimlichen Gruppenversammlungen abweichender Minderheiten bis zu faktischen Simultaneen.
Der Verfasser arbeitet zu Recht zwei Hauptstränge der Reformation in Westfalen heraus: Sie ist eine Spätreformation, und sie ist durch ein regionales Miteinander konkurrierender, aber auch koexistierender Konfessionen bestimmt. Insofern kann das Buch als Einführung und Überblick empfohlen werden. Allerdings ist augenfällig, dass auf die Darlegung von Forschungsdiskussionen und -problemen so weitgehend verzichtet wird, dass ein Bild entsteht, das in einzelnen Fällen oberflächlich wird. Dies gilt insbesondere für die Darstellung der Religionspolitik der jülich-klevischen Herzöge: Die breite und langanhaltende Diskussion über die Interpretation der via media-Politik findet keinen Widerhall im Buch, allzu viele neuere Studien bleiben unberücksichtigt. Auch für die Stadtreformationen in Dortmund, Paderborn und Essen vermisst man den Ertrag stadtgeschichtlicher Studien der letzten fünfzehn Jahre. Insgesamt müssen die Literaturhinweise und -verweise leider als eher veraltet gelten. Auch überregionale Zusammenhänge, zum Beispiel die Konsequenzen des niederländischen Aufstandes für Westfalen, werden zu wenig betont. Die westfälischen Grafschaften wurden nicht nur aus dem Westen, sondern erheblich auch aus dem hessischen Raum beeinflusst, was ebenso unterbewertet bleibt. Der Ertrag des Buches ist daher zwiespältig: In den Teilen zur konkreten Alltagspraxis von Religion sehr gelungen, werden politische und soziale Hintergründe religiös-kirchlicher Entscheidungen in einigen Fällen ungenügend erhellt.
Anmerkung:
[1] Alois Schröer: Die Kirche in Westfalen im Zeichen der Erneuerung, 2 Bde., Münster 1986/87.
Stefan Ehrenpreis