Mirko Breitenstein: Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne (= Klöster als Innovationslabore; Bd. 4), Regensburg: Schnell & Steiner 2017, 480 S., 14 Farbabb., ISBN 978-3-7954-3225-6, EUR 49,95
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Um die dominierende geistige Einstellung der europäischen Eliten in Fragen des kulturellen Relativismus zu charakterisieren, rekurrierte der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem umstrittenen Essay La Tyrannie de la pénitence (2006) [1] auf ein angeblich durch Bernhard von Clairvaux geprägtes Deutungsmuster des menschlichen Gewissens, nach welchem es vier Arten der conscientia gäbe: das gute und ruhige, das gute und aufgewühlte, das schlechte und aufgewühlte sowie abschließend das schlechte und ruhige Gewissen. Letzteres sei laut Bruckner für die Beschreibung des Schuldkomplexes Europas am besten geeignet, denn aus der stetigen Vergegenwärtigung der Verbrechen der Vergangenheit habe sich eine dogmatische Haltung etabliert, die das kollektive Gewissen zwar beruhigt, zugleich aber jeden schöpferischen, unternehmerischen Geist hemmt, sodass an dessen Stelle eine Art Hoffnungslosigkeit tritt. Bei der Argumentation von Pascal Bruckner handelt es sich nur um das letzte Beispiel der mehr oder weniger instrumentellen Verwertung einer im monastischen Milieu des 12. Jahrhunderts entstandenen Konzeption, die vier mögliche Zustände des menschlichen Gewissens postuliert. Eine nachhaltige Systematisierung hatte dieses Ordnungsschema im Traktat De quattuor modis conscientiarum gefunden, dessen Entstehung und fast tausendjährige Rezeptionsgeschichte den Gegenstand der vorliegenden Habilitationsschrift von Mirko Breitenstein bildet.
Schon die Themenauswahl, die Erkenntnisziele sowie die methodischen Ansätze sind originell, denn der Verfasser kombiniert in seinem Opus eine Ideen- und Rezeptionsgeschichte mit einem editorisch-kodikologischen Hauptteil: Der historischen Einordnung und der kritischen Edition mit deutscher Übersetzung des Traktats Von den vier Arten des Gewissens (Kapitel 4 und 5) stellt er eine Schilderung der Traditionslinien voran, die zum Aufkommen der vierfachen Gewissenskonzeption führten (Kapitel 2 und 3), um dann in einem dritten Teil des Werkes eine Studie zur Rezeption dieses Ordnungsschemas vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart anzubieten (Kapitel 6). Obwohl die Innenschau des Menschen schon durch Johannes Cassian, Ambrosius, Augustinus und Gregor den Großen für unerlässlich erklärt worden war (21-40, bes. 35), kam erst in den philosophischen Diskursen der vita religiosa um die Mitte des 12. Jahrhunderts dem Gewissen eine heilsnotwendige Funktion zu (39) - was eine tiefgreifende Reflexion über sein Wesen und seine möglichen Ausprägungen anregte (41-57). Diese Bemühungen um eine deutliche Klassifizierung der Gewissensarten werden von Breitenstein als Begleiterscheinungen jener geistigen und geistlichen Aufbruchsbewegung des 12. Jahrhunderts gedeutet (14-16, 59, 389), die von der Forschung in Anlehnung an Marie-Dominique Chenu als Aufwachen des Gewissens (éveil de la conscience) bezeichnet wird. Auch das Motiv der vier Arten des Gewissens wird in diesen kulturellen Kontext eingebettet: Auf diese Klassifizierung stößt man zum ersten Mal kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts unter anderem in einigen Bernhard von Clairvaux und Hugo von St. Viktor zugeschriebenen Predigten und Sentenzen sowie selbstredend im Traktat Von den vier Arten des Gewissens, in welchem das Motiv zu einem festen Ordnungsschema gemacht wurde (59-76).
Die Fragen nach Entstehung und Zuschreibung des Traktats De quattuor modis conscientiarum lassen sich nicht mit Sicherheit beantworten: Trotz seiner späteren Attribution an Bernhard von Clairvaux kann es als ausgeschlossen gelten, dass der berühmte Zisterzienserabt an der Abfassung des Textes in irgendeiner Form beteiligt war oder in einer unmittelbaren Beziehung zu ihm stand. Vielmehr geht Breitenstein von zwei möglichen Szenarien aus: Je nachdem, wie man die in vier Textzeugen vorkommende Aussage [liber de conscientia] editus ad quendam religiosum et litteratum virum, de ordine Cisterciensi interpretiert, dürfte der in Briefform verfasste Traktat an einen Zisterzienser gerichtet oder von einem weißen Mönch verfasst worden sein (77-82). Die Heranziehung des Motives der vier Gewissensarten in den bernhardinischen Sermones de diversis könnte für eine Entstehung des Werkes bereits vor 1136 sprechen (79). Noch problematischer als die Datierung und Zuschreibung erweist sich die räumliche Verortung, denn neben einem nordostfranzösischen Übrlieferungsschwerpunkt mit Handschriften aus Charleville-Mézières und Metz, lässt sich durch die beiden Zeugen aus La Cava und Florenz auch eine frühe Verbreitung in Italien feststellen (77). Einer umfassenden Beschreibung der Zusammenstellung der elf wichtigsten Textzeugen (93-149) sowie der Quellen und Textbezüge (157-163) folgt die kritische Textausgabe mit deutscher Übersetzung (178-225). Als Leithandschrift wird diejenige aus La Cava herangezogen: Der Zeuge ist nicht nur der älteste, sondern er überliefert auch den Text in seiner ganzen Länge.
Das 6. Kapitel bildet eine fast eigenständige Studie über die Rezeption des Motives der vier Gewissensarten vom 12. bis zum 21. Jahrhundert. Daran wird ersichtlich, wie eine Elitenpraxis - die systematische Erforschung des eigenen Gewissens auf der Grundlage eines Deutungsschemas - im Laufe der Jahrhunderte zu einem ziemlich populären Phänomen wurde, wobei das Modell der vier Gewissensarten nur eines der für den Akt der individuellen Innenschau infrage kommenden Ordnungsschemata bildete. In dieser langen Zeitspanne wurde das Bild eines vierfachen Gewissens über unterschiedliche Medien und Gattungen verbreitet, die als typisch für die einzelnen Epochen gelten: So findet sich die Konzeption im 14. Jahrhundert zumeist in mystisch-meditativen Texten (236-259), im 15. Jahrhundert ausschließlich in Predigten (259-276), im 17. Jahrhundert hauptsächlich in kasuistischen Repertorien (290-345). Gerade im 17. Jahrhundert lässt sich ein Höhepunkt der Rezeption des Motives feststellen, als die christlichen Konfessionen von einer Verrechtlichung der Moraltheologie betroffen waren und die vier Gewissensarten sowohl durch Werke von Jesuiten als auch durch solche von Vertretern der puritanischen und reformierten Konfessionen Ausbreitung fanden (291). Die jüngste Spur des Motives kommt im Essay des Pascal Bruckner aus dem Jahr 2006 vor, von welchem bereits die Rede war (387-388). Dankenswerterweise wird der Band durch eine 54-seitige Bibliografie (394-451) und ein Register der Bibelstellen (452-453), Handschriften (454-456), Verleger (456-458), Personen und Werke (459-476) sowie Sachen (476-480) erschlossen.
Mit der Habilitationsschrift von Mirko Breitenstein liegt eine anspruchsvolle Arbeit vor, die am Beispiel eines aus der moraltheologischen Literatur des 12. Jahrhunderts entstandenen Motivs auf sehr originelle Art und Weise verdeutlicht, wie ein hochmittelalterliches und monastisches Konstrukt in den verschiedensten historischen, kulturellen und konfessionellen Zusammenhängen bis zum 21. Jahrhundert überleben und für die Deutung der Wirklichkeit (einer Wirklichkeit, die in diesem Fall mit der inneren Dimension des Menschen koinzidiert) herangezogen werden konnte. Obwohl im gesamten Werk ein logischer roter Faden zu erkennen ist, wären in Anbetracht der Komplexität des Themas kleine Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte für die Leserin / den Leser sowie für die Rezeption der dort vertretenen Thesen sicherlich von Vorteil gewesen. Dies gilt umso mehr für den Abschnitt zur Handschriftenüberlieferung, in dem die Textträger akribisch beschrieben werden, aber eine resümierende Antwort auf die Frage zur inneren Logik der Kompilationen beziehungsweise zu den sogenannten Textgemeinschaften (97) fehlt. Doch diese Anmerkungen sind in Anbetracht der Qualität des vorliegenden Werks von untergeordnetem Stellenwert. Dabei handelt es sich um eine niveauvolle Leistung, die vor allem durch die innovative Kombination von ideengeschichtlichen und editorisch-kodikologischen Ansätzen überzeugt. Durch den Anspruch, die Spuren eines im Laufe der Geschichte für zahlreiche Menschen so relevanten Ordnungsschemata verfolgen zu wollen, weist das Werk außerdem einen Mehrwert auf, der nur wenige Geschichtsbücher charakterisiert: es gibt Stoff zum Nachzudenken, was aus Sicht des Rezensenten keine Kleinigkeit ist.
Anmerkung:
[1] Pascal Bruckner: La tyrannie de la pénitence. Essai sur le masochisme occidental, Paris 2006. Deutsche Übersetzung: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa, hg. v. Michael Bayer, München 2008.
Étienne Doublier