Etienne Schinkel: Holocaust und Vernichtungskrieg. Die Darstellung der deutschen Gesellschaft und Wehrmacht in Geschichtsschulbüchern für die Sekundarstufe I und II (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 16), Göttingen: V&R unipress 2018, 582 S., 1 Tbl., 98 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0858-0, EUR 80,00
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Die Untersuchung widmet sich der Frage, wie in (west-)deutschen Schulgeschichtsbüchern das Verhalten der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung gegenüber Verfolgung und Ermordung der Juden sowie dem Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen unter der Verantwortung der Wehrmacht dargestellt wird. Die Schulbuchanalyse bezieht sich auf eine Auswahl von Schulgeschichtsbüchern der gymnasialen Sekundarstufe I und II von den 1980er Jahren bis 2012. Entsprechend der vier Dekaden, aus denen die Schulbücher stammen, unterteilt der Autor seine Analyse in vier "Lehrwerksgenerationen", wobei die letzte Generation Werke umfasst, die von 2008 bis 2012 erschienen sind. Er legt einsichtig dar, dass die Generationenschritte sich durch Entwicklungen in der Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus rechtfertigen lassen.
Ein beträchtlicher Teil der 500 Seiten langen Untersuchung ist dem "Forschungskontext und Problemaufriss" sowie dem "Umgang mit der NS-Vergangenheit in Forschung und Öffentlichkeit" gewidmet (circa 150 Seiten). Hier fasst der Autor im Wesentlichen bereits vorliegende Ergebnisse zusammen, beziehungsweise stellt besondere geschichtskulturelle Ereignisse in ihrer angenommen Wirkung auf die Schulbuchdarstellung heraus.
Der Autor betont in seiner Darstellung geschichtsdidaktischer Forschung die Konstanz exkulpatorischer Argumentation bei Jugendlichen selbst gegenüber aufklärerischem Geschichtsunterricht (28f.). Leider wird diese Aussage nicht wieder aufgenommen, wenn im abschließenden Unterkapitel "[p]ragmatische Konsequenzen für die Schulbuchgestaltung" gezogen werden und somit bleibt die Frage, wie denn exkulpatorischem Verhalten begegnet werden könnte, weitgehend offen.
Die Auseinandersetzung mit 'Holocaust Education' und insbesondere der 'International Holocaust Remembrance Alliance' scheint mir das Wirken dieser Organisation zu sehr von anfänglichen geschichtspolitischen Zielsetzungen und nicht von der tatsächlichen Tätigkeit und aktuellen Programmatik her zu beurteilen, wenn der Autor deren Konzeption "in evidentem Widerspruch zum Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins über den Holocaust und die Gruppe der 'Zuschauer'" sieht und von einer "seit einigen Jahren schleichende[n] Hegemonialisierung eines pädagogischen Programms aus Nordamerika" spricht (35). Die Alliance geht nicht - wie von Schinkel unterstellt - davon aus, dass sich der Holocaust "jedem rationalen Kalkül entziehe" (35) und prinzipiell nicht beschreibbar sei. Ihre Empfehlungen und Materialien [1] unterscheiden durchaus zwischen Beschreibung, Erklärung und möglichen 'Lehren'. Zu generalisierend scheint mir auch das Urteil des Autors, "Lernen aus der Geschichte" stelle "keine sinnvolle didaktische Kategorie" dar (38). Einerseits weist er zu Recht auf Forschungen hin, die vor direkten Schlüssen aus der Geschichte, moralisierendem Unterricht und übertriebenen Lernzielen warnen. Andererseits stellt er in einer Anmerkung (!) fest, Geschichtslehrer werden "zumindest den Wunsch hegen dürfen, dass ihr Geschichtsunterricht mit dazu beiträgt, bei Jugendlichen Toleranz und Respekt gegenüber Minderheiten zu entwickeln" (40). Wenn dies nun nicht bloßer Voluntarismus sein soll, dann handelt es sich doch hier um eine geschichtsdidaktische Kategorie, oder? Hier fehlen detaillierte Betrachtungen über Zielvorstellungen, unterrichtsmethodische Überlegungen und Zieleinlösung. Der Autor sieht das Geschichtsschulbuch als das offenbar nach wie vor wichtigste Unterrichtsmittel an, womit er implizit seinen Forschungsgegenstand legitimiert: "An der Zentralstellung des Buches im Geschichtsunterricht hat sich bis heute nicht viel geändert." (61) Es erscheint mir fraglich, ob die empirische Forschung zum Geschichtsunterricht eine solch eindeutige und allgemeine Aussage stützt. Zumindest für den Unterricht in der Sekundarstufe I scheint mir nicht ausgeschlossen, dass selbstgeschneiderte und sonstige Zusatzmaterialien im konkreten Unterricht überwiegen und das Schulbuch nur als Hintergrundmaterial dient.
Der Autor leitet sechs Kategorien für die Schulbuchanalyse aus der Eingangs entwickelten Fragestellung zur Haltung der "Durchschnittsbevölkerung" ab: Boykott 1933; Novemberpogrom 1938; Deportation der Juden und Versteigerung ihres Eigentums 1940/41-1945; Kenntnisse vom Holocaust; Typische Grundhaltungen und Verhaltensweisen; Wehrmacht und Vernichtungskrieg. Diesen deduktiven Zugang ergänzt er durch am Schulbuchtext induktiv gewonnene Unterkategorien. Die Befunde werden für jede Lehrwerkgeneration gesondert aufgeführt, wobei gleichbleibende Befunde stets und oft in gleichlautenden, langen Zitaten wiederholt werden. Ein Vergleich der Befunde von Generation zu Generation hätte die Untersuchung übersichtlicher gestaltet. Ein solcher findet erst im letzten Kapitel "Fazit" statt (423-465), an dem sich Entwicklungsschritte zur Berücksichtigung der untersuchten speziellen Thematik, aber auch zu sich wandelnden Tendenzen der Darstellung des Nationalsozialismus allgemein im (west-)deutschen Geschichtslehrbuch ablesen lassen.
Leider ordnet der Autor seine Befunde nicht in die übergeordnete Struktur der jeweiligen NS-Kapitel in den Büchern ein, so dass die Ergebnisse keine Schlussfolgerungen auf den Zusammenhang der Einzelbefunde mit der Konzeption der Bücher erlauben und daher nicht erörtert werden kann, warum einige Bücher die untersuchte Thematik behandeln, andere aber nicht.
Quantitative Erhebungen oder tabellarische Darstellungen der eigenen Ergebnisse nach den angewandten Kategorien oder auch nur Schulbuchprofile nach Aussage- oder Argumentationstypen finden sich in der Analyse nicht, was eine Übersicht bei 50 analysierten Werken erschwert. Überhaupt bleiben die Ausführungen zur Methode der Schulbuchanalyse allgemein und blass. Die Zitate zu ihrer Charakterisierung sind nicht aktuell, um die Fortschritte in der Methodik - vor allem der quantitativen und der qualitativen Inhaltsanalyse mit Hilfe von computergesteuerten Programmen - seit den 1990er Jahren beschreiben zu können.
Trotz dieser methodischen Einschränkungen liefert die umfangreiche und detaillierte Analyse der Schulbücher - insbesondere der Schulbuchtexte - aussagekräftige Ergebnisse. Die Analysekategorien erweisen sich als ein fruchtbarer Zugang für die Darstellung und Interpretation der Schulbuchinhalte. Schinkel konstatiert, dass "die Materialauswahl von Generation zu Generation insgesamt vielschichtiger geworden" ist (430). Die Involviertheit der deutschen Bevölkerung wird stärker sichtbar. "Antisemitische Denkmuster in der Bevölkerung", die anfangs oft nicht dargelegt wurden, werden etwa seit der Jahrhundertwende "zu einem festen Bestandteil der meisten Lehrwerke. Buchstäblich als Initialzünder wirkte hierbei die Goldhagen-Debatte" (431). Ähnliches gilt für die Darstellung der "Arisierungen", die in den ersten beiden Generationen kaum behandelt wurden. Die Teilnahme der Wehrmacht an Vernichtungsaktionen wird erst im Gefolge der Wehrmachtsausstellung deutlich dargestellt, wenn auch nicht in allen Büchern. Das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen wird allerdings immer noch eher am Rande oder zum Teil gar nicht erwähnt. Damit arbeitet der Autor wichtige Abschnitte der Schulbuchdarstellung zum Nationalsozialismus heraus.
Allerdings, so betont der Autor, dürfe man nicht von linearen Vorstellungen ausgehen, da ältere Interpretationsmuster neu oder in anderen Werken wieder auftauchen. Unsicherheiten und Schwierigkeiten in der Beschreibung haben die Autoren laut Schinkel vor allem bei der Frage, "was in der deutschen Öffentlichkeit über den Holocaust bekannt war" (431). Tendenzen zur Entschuldigung oder zur Vermeidung eines klaren Urteils halten sich hier am deutlichsten.
Schinkel folgert aus seinen Befunden, dass weniger wissenschaftliche Forschungsergebnisse als vielmehr Events in der 'public history' auf den Wandel der Schulbuchtexte einwirken. "Die längerfristigen Wirkungen, die von 'Holocaust' ausgingen, waren jedenfalls immens" (164), heißt es beispielsweise zur gleichnamigen Fernsehserie. Damit reißt der Autor eine wichtige Fragestellung an: Welche Faktoren beeinflussen Gestaltung und Aussagerichtung der Schulbuchtexte? Sind dies tatsächlich relativ kurzzeitige, "äußere" Ereignisse; welche Rolle spielen dabei langfristige Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft; verlaufen sie parallel oder ungleichzeitig?
Im Abschnitt "Pragmatische Konsequenzen für die Schulbuchgestaltung" zeigt der Autor, dass es an Quellen nicht mangelt, auf die Schulbuchautoren zurückgreifen können, um über Herrschaftsabsichten, die Verantwortung der Handlungsträger und die Haltung der Bevölkerung zu informieren. Der Autor zitiert ausführlich aus antisemitischen NS-Reden sowie von brutalen Tatschilderungen, bei denen sich allerdings die Frage stellt, in welchem Ausmaß diskriminierende NS-Sprache und Gewaltdarstellungen in ein Schulbuch Eingang finden sollten. Der Autor nimmt abschließend gegen "Betroffenheitspädagogik" Stellung, die allerdings bei den Quellen, die er als pragmatische Konsequenz seiner Analyse empfiehlt, nur schwer zu vermeiden ist.
Insgesamt deckt die Untersuchung ein breites Spektrum von Themenkreisen ab, in die eine Schulbuchanalyse zum Nationalsozialismus einzuordnen ist, wie Geschichtskultur, Geschichtsdidaktik, geschichtswissenschaftliche Forschung, Methoden der Schulbuchanalyse. Die aussagekräftigen Ergebnisse der Schulbuchanalyse spiegeln Trends nicht nur der Behandlung des speziellen Themas wider, sondern kennzeichnen zugleich allgemeine Entwicklungstendenzen in der Schulbuchdarstellung des Nationalsozialismus.
Anmerkung:
[1] International Holocaust Remembrance Alliance: How to Teach about the Holocaust in Schools, https://www.holocaustremembrance.com/educational-materials/how-teach-about-holocaust-in-schools (zuletzt aufgerufen am 09.03.2019).
Falk Pingel