Klaus Herbers / Victoria Trenkle (Hgg.): Papstgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue Zugangsweisen zu einer Kulturgeschichte Europas (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Heft 85), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 211 S., 68 Abb., 6 Tbl., ISBN 978-3-412-50959-0, EUR 35,00
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Der Zaun scheint sehr weit gezogen. Denn der von Klaus Herbers und Viktoria Trenkle herausgegebene Sammelband spannt einen unzweifelhaft ambitionierten Bogen, wenn er neben "Papstgeschichte im digitalen Zeitalter" auch "neue Zugangsweisen zu einer Kulturgeschichte Europas" verheißt. Angesichts dieses umfassenden Horizonts blickt man etwas skeptisch auf das handliche Buch, das aus dem von Klaus Herbers (Erlangen), Irmgard Fees (München) und Joachim Hornegger (Erlangen) betreuten Projekt "Schrift und Zeichen. Computergestützte Analyse hochmittelalterlicher Papsturkunden" hervorgegangen ist. Der einführende Beitrag der Herausgeber führt Fokus und Perspektive des Bandes dann allerdings auf die zugrundeliegende Tagung "Papstgeschichte des hohen Mittelalters: digitale und hilfswissenschaftliche Zugangsweisen" (7) zurück und wird dem Inhalt des Werkes damit besser gerecht, das traditionelle und neue Herangehensweisen an die Erforschung hochmittelalterlicher Papsturkunden vorstellt und integriert.
Klaus Herbers möchte in seinem einführenden Beitrag die Papsturkunden als "Schlüssel zur Kulturgeschichte des europäischen Mittelalters" verstanden wissen, wobei der schwungvoll formulierte Text nicht ganz vergessen machen kann, dass die Papstgeschichte wie die Erforschung der päpstlichen Urkunden schon seit einiger Zeit aus den Gefilden der Rechtsgeschichte und Diplomatik herausgetreten und in verschiedenste Bereiche auch der Kulturgeschichte des Mittelalters hineingesickert sind. Kritisch kann man mit Blick auf die sich anschließenden Beiträge sehen, dass die genuin kulturgeschichtlichen Fragen, die Herbers aufwirft - Urkunden in der symbolischen Kommunikation, semiotische Zeichen, nonverbale Botschaften und die Urkunde als Bild - in vielen Aufsätzen eher vorausgesetzt denn diskutiert oder differenziert werden. Die von Herbers angerissenen Fragen, "die mit Hilfe digitaler Verfahren erstmals oder neu gestellt werden können" (17) bemühen sich schließlich um die Integration traditioneller und neuer Methoden der Urkundenforschung und skizzieren die Aufgaben einer Papstdiplomatik für das dritte Jahrtausend.
Malte Rehbein befasst sich in seinem Beitrag mit "der Notwendigkeit der Digital Humanities als historische Grund- und Transferwissenschaft" und kartiert anhand des Projektes des Kunsthistorikers Maximilian Schilch, der auf Basis der online zugänglichen Geburts- und Sterbedaten wichtiger Persönlichkeiten weltweit Migrationsströme visualisieren will, eindrucksvoll die suggestive Macht wie die erwartbar schwerwiegenden hermeneutischen Probleme, die aus einem derartigen Zugriff erwachsen. Eine Lösung sieht er in der "Verankerung digitaler Methoden und einer digitalen Quellenkritik in den Fachwissenschaften" (43). Bemerkenswert bleibt freilich, dass Rehbein die im Berner Repertorium Academicum Germanicum seit vielen Jahren in ungleich differenzierterer Art und Weise betriebenen und online zugänglichen Forschungen zur digitalen Erfassung und Visualisierung der akademischen Migration im Spätmittelalter nicht einmal erwähnt.
Der Beitrag von Vincent Christlein, Martin Gropp und Andreas Maier stellt aus informatischer Perspektive das technische Instrumentarium zur computergestützten Analyse hochmittelalterlicher Papsturkunden (1049-1199) anhand von Untersuchungen zur durchschnittlichen Zeilenhöhe und dem Verhältnis zwischen Zeilenhöhe und Größe der Rota vor. Dieser Aufsatz, der die einschlägigen Untersuchungen von Otfried Krafft aufnimmt, zeigt eindrucksvoll, dass die Informatik eine mächtige Hilfswissenschaft des Historikers sein kann, aber erstens dringend auf eine konzise und fachhistorisch hinreichend eingehegte Fragestellung angewiesen ist und zweitens ebenso dringend des einschlägig ausgewiesenen Fachwissenschaftlers zur Interpretation der digital generierten Ergebnisse bedarf.
An diesem Punkt setzen auch Benedikt Hotz und Benjamin Schönfeld an, die aus ihrer Projektarbeit zur digitalen Erfassung der Entwicklung der kurialen Minuskel im 11. und 12. Jahrhundert berichten. Dabei kommen die Autoren zu dem ernüchternden, wenn auch nicht ganz unerwarteten Befund, dass der Computer zwar die Datenerhebung und ihre Auswertung erleichtern, eine zuverlässige automatisierte Datenanalyse jedoch noch nicht leisten kann. "Sie ist auch nicht das Endprodukt, damit also quasi ein Ersatz paläographischer Expertise, sondern vielmehr das Fundament einer nach wie vor notwendigen klassischen Analyse" (67).
Thorsten Schlauwitz präsentiert praktische Beobachtungen aus seinen Forschungen zur automatischen Schreiberidentifizierung am Beispiel von Papsturkunden des 12. Jahrhunderts, wobei etwa im Falle der Arbeit mit Dendrogrammen einmal mehr deutlich wird, dass der Computer keine Antworten, gar fertige Thesen liefert, sondern die Ergebnisse der Berechnungen nicht nur interpretiert, sondern vom einschlägig bestens informierten Bearbeiter vorgängig auf ihre Plausibilität hinterfragt werden wollen und müssen. Auf dem bisherigen Stand der Technik wie aufgrund der immer noch nicht hinreichenden Menge des digital erfassten Materials liegt eine automatische Schreibererkennung deshalb noch in weiter Ferne: "Für das päpstliche Kanzleiwesen des 12. Jahrhunderts blieben somit die bisherigen Erkenntnisgrenzen weitgehend bestehen" (93).
Irmgard Fees wählt für ihren Beitrag einen Ansatz, der Diplomatie, Paläographie und Kulturgeschichte in fruchtbarer Weise verbindet, indem sie die päpstliche Urkunde des 11. und 12. Jahrhunderts auch als Propaganda- und Kommunikationsinstrument der Kirche versteht. Die Schreiben wurden von der Kanzlei in einer Weise gestaltet, die neben dem rechtsmateriellen Inhalt des Schriftstücks nun zunehmend visuelle Aspekte in den Mittelpunkt rückte und damit auch ein nicht lesekundiges Publikum anzusprechen in der Lage war. Auch Judith Werner befasst sich mit dem Urkundenlayout und stellt den Einfluss der Urkundenempfänger auf die Gestaltung der päpstlichen Schriftstücke heraus. Dass die bei aller Abweichung im Detail einheitliche "Gestaltung der Urkunde" an der "Gestaltung Europas" Anteil gehabt haben soll, führt vielleicht etwas weit. Maria Cristina Cunha, die die Einflüsse des Layouts päpstlicher Urkunden auf die Produktion der Kanzlei der portugiesischen Könige untersucht, kann zwar die Übernahme einiger Charakteristika, doch nicht die direkte Beeinflussung durch die Produkte der kurialen Kanzlei nachweisen.
Viktoria Trenkle rückt die Kardinalsunterschriften auf den päpstlichen Privilegien in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und diskutiert ihre Bedeutung für den Beratungsprozess an der Kurie einerseits, ihre Außenwirkung als Kommunikationsmittel und Instrument der Rechtsfindung und -sicherung andererseits. Ebenfalls mit den Kardinälen befasst sich der von spürbarer Begeisterung für sein Sujet geprägte Aufsatz von Werner Maleczek über die Kardinalssiegel des Hochmittelalters. Maleczek wartet nicht nur mit einem geradezu handbuchartigen Überblick über die Siegel als Mittel kardinalizischer Selbstdarstellung auf, sein Beitrag hebt nebenbei auch die Bedeutung von Intuition und Erfahrung des Gelehrten für die erfolgreiche Arbeit mit derartigen Quellen hervor. Dies gilt sowohl für die Auffindung des europaweit verstreuten Materials, wie auch für die Interpretation der oft sehr komplexen und bisweilen schlecht erhaltenen Siegelbilder.
Brigide Schwarz (†) widmet sich schließlich in ihrem dichten und von stupender Gelehrsamkeit geprägten Beitrag dem Aufstieg des päpstlichen Vizekanzlers vom "bescheidenen Haushaltsvorstand" zu einem "der Großen am Hof des Papstes" (172) in der Zeit zwischen 1216 und 1471. Sie gibt zudem einen kurzen Ausblick auf Überlieferungs- und Editionslage der Papsturkunden des Spätmittelalters und skizziert die hermeneutischen Chancen für die Erforschung kurialer Abläufe, welche sich aus der digitalen Erfassung der päpstlichen Schreiben ergeben können.
Das Sammelwerk bietet insgesamt einen informativen und lesenswerten Ausblick auf die technischen und methodischen Herausforderungen und Chancen, welche die neuen digitalen Möglichkeiten nicht nur für die Erforschung der Papsturkunden bedeuten. Und es ruft nebenbei, vielleicht unabsichtlich, zu Umsicht und Vorsicht auf: Für eine gelingende Geschichtswissenschaft werden auch in Zukunft Anzahl und fachliche Kompetenz der Forschenden wichtiger sein als Anzahl und Rechenleistung der eingesetzten Computer.
Das Werk wird durch ein Register der Länder, Orte und Personen erschlossen und zudem durch ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ergänzt.
Kerstin Hitzbleck