Marianne von Manstein / Bernhard von Waldkirch: Wilhelm Leibl. Gut sehen ist alles!, München: Hirmer 2019, 288 S., 212 Farbabb., ISBN 978-3-7774-3386-8, EUR 39,90
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In unserer so weit fortgeschrittenen Zeit existiert eine Strömung in der Kunstgeschichte, die man als "neuidealistisch" bezeichnen kann, eine Strömung, die weltweit spürbar ist und die sich rasant verbreitet. In der neuidealistischen Kunstgeschichte beschäftigt man sich zunächst mit sich selbst, also mit den "großen Kunsthistorikern", die als gottgleiche Wesen verehrt werden. Nur eine Stufe darunter kommen bereits die Künstler selbst, die ebenfalls über jede Kritik erhaben sind. In deutscher Sprache erschien jüngst ein Ausstellungskatalog, den man als Beispiel dieser Strömung par excellence bezeichnen kann.
Der Ausstellungskatalog "Leibl - Gut sehen ist alles" weckt zunächst Erinnerungen. Die beiden Herausgeber scheinen sich darin zu gefallen, in die Rollen früherer Kunsthistoriker zu schlüpfen. So bietet Marianne von Manstein im einleitenden Essay eine unkritische Nacherzählung der Biografie Wilhelm Leibl (1906) von Julius Mayr (13-33) [1], die sie mit einer Theorie von Christian Lenz über den angeblichen Einfluss von Edouard Manet auf Leibl aufzupeppen versucht. [2] Dies ist aber bereits der einzige moderne Aspekt des Aufsatzes. Die Idee ist, wie gesagt, nicht einmal von der Autorin selbst. Ebenfalls in eine andere Rolle schlüpft Bernhard von Waldkirch, dem es um das "wahre Sehen" geht (35-59). Hier fühlt man sich unwillkürlich an Eduard Ruhmer und seine unseligen Theorie der "reinen Malerei" von Leibl erinnert, eine Theorie, die, wie wir uns erinnern, ihren Ursprung in einer kurzen Phase der deutschen Geschichte hat, in der die "Reinheit" als das Ideal gepriesen wurde. [3] Dessen ungeachtet haben wir mit dem vorliegenden Katalog ein Konzept vorliegen, in dem Leibl, seine Malerei und sein Künstlertum im hellsten Licht erscheinen und kein Schatten die schöne Idylle trübt.
Im Zusammenhang mit dem Konzept der Leibl-Ausstellungen in Zürich und Wien stellt sich die Frage, ob man in unserem Jahrhundert eine Sichtweise aufgreifen kann, die bereits 120 Jahre alt ist, also die Sicht des späten Deutschen Kaiserreich, und so tun kann, als wäre in den dazwischen liegenden Jahren nichts passiert. Der Katalog gibt eine eindeutige Auskunft: Ja, man kann!
Ist die These, dass Leibl von den französischen Impressionisten tiefgehend beeinflusst war, richtig? Diese Idee wurde bereits von dem liberalen Kunsthistoriker Emil Waldmann in der Zeit der Weimarer Republik propagiert. [4] Waldmann wollte Leibl vom Ruf eines deutschnationalen Künstlers befreien, der ihm damals wohl nicht zu Unrecht anhaftete. Aufgrund der Quellenlage kann man die Theorie eines angeblichen Einflusses der Impressionisten jedoch nicht aufrechterhalten. Im gesamten Briefwechsel von Leibl gibt es keine einzige Erwähnung eines Impressionisten. Man kann den Realismus des Leibl-Kreises sogar als eine ausgesprochene Reaktion gegen den Impressionismus begreifen. Dies hat vor allem Julius Meier-Graefe in seiner kurzen Kritik des Werkes von Leibl scharfsinnig erkannt und bis in unser Jahrhundert gibt es keinen Text, der über diese Analyse hinausgeht. [5] Meier-Graefe erkannte, dass sich Leibl nach einer progressiven Phase spätestens ab 1875/76 einem altertümlichen Stil zuwandte, mittels welchem das Naturvorbild in einer nahezu schmerzhaften Weise genauestens imitiert wurde. Dieser sogenannte "Holbeinstil" sicherte Leibl den Beifall erzkonservativer Kreise in Süddeutschland und schuf die Basis für seine spätere Kanonisierung in der Kunstgeschichte des Deutschen Reiches. Nichts ist irreführender, als das im altmeisterlichen Stil gemalte Gemälde "Der Jäger" (1876) von Leibl den "Steinklopfern" (1849) von Gustave Courbet gegenüberzustellen (46-47). Die ideologische Basis, auf der sich Leibls plötzlicher Wandel ab 1875/76 vollzog, war die Freundschaft Leibls mit Julius Langbehn, der als einer der Vorläufer der späteren Kunsttheorie des Dritten Reiches gilt. [6] Langbehn war ein glühender Antisemit. Ähnliche Züge muss man auch bei Leibl erkennen, so in einem Brief vom 31.12.1887. [7] Spätestens ab hier muss man das hell scheinende Bild von Leibl etwas korrigieren.
"Gut sehen" ist doch nicht alles! Man muss die Forschung der letzten 120 Jahre studieren und verstehen: "Gut wissen ist alles!" Man muss Forschungsergebnisse, die nicht in das hehre Bild Leibls passen, zumindest erwähnen, kann die Forschung und die kulturellen Veränderungen der letzten 120 Jahre doch nicht einfach ignorieren! Man kann diese Ausstellung mit gutem Recht auch einen Skandal nennen, dessen Verantwortliche letztlich der Direktor des Kunsthauses Zürich, Christoph Becker, und der Generaldirektor der Albertina, Klaus Albrecht Schröder, sind. Diese hätten sich darum kümmern müssen, dass die geplante Ausstellung tatsächlich auf einer wissenschaftlichen Basis erstellt wurde.
Anmerkungen:
[1] Julius Mayr: Wilhelm Leibl. Sein Leben und sein Schaffen, Berlin 1906.
[2] Christian Lenz: Wilhelm Leibl - der Maler, in: Wilhelm Leibl zum 150. Geburtstag, Ausstellungskatalog Neue Pinakothek, München / Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1994, 61-62.
[3] Eberhard Ruhmer: Das Rein Malerische, Phil. Diss., Halle / Saale 1940 [Typomanuskript]; Ders.: Der Leibl-Kreis und die Reine Malerei, Rosenheim 1984.
[4] Emil Waldmann: Wilhelm Leibl. Eine Darstellung seiner Kunst, 1. Aufl., Berlin 1914.
[5] Julius Meier-Graefe: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, Stuttgart 1904, 483-492 [speziell 486-487 (über den Gegensatz von Leibl zur Moderne), 488 (über das Verhältnis Leibls zum Impressionismus)].
[6] B. Röhrl: Wilhelm Leibl. Leben und Werk, Hildesheim 1994, 153-159.
[7] "Obgleich ich das Bild sehr billig angeboten habe, wurde dasselbe doch nicht acceptiert, weil das Sujet nicht gefiel. Für ganz werthlose, stümperhafte Sachen haben die Kölner Herren mehr wie das doppelte bezahlt. Der verfluchte Jude Oppenheim war gegen mich und einem reichen Judenburschen traun sich die Kölner nicht zu widersprechen" Brief von Wilhelm Leibl an Katharina Kirchdorffer vom 31.12.1887, in: B. Röhrl: Wilhelm Leibl. Briefe, Hildesheim 1996, 244.
Boris Röhrl