Arvo Tering (Bearb.): Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561-1800 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 28), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 940 S., ISBN 978-3-412-51239-2, EUR 130,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der estnische Historiker Arvo Tering hat einen Großteil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit den Forschungsgebieten Peregrination und Prosopografie gewidmet - also der akademischen Wanderung und der Analyse bestimmter Personengruppen -, mithin Teilgebieten, deren Ansehen innerhalb der zeitgenössischen Wissenschaftsarithmetik nicht allzu hoch ist. Dennoch hat er sich unbeirrt und beharrlich dieser akribischen Sucharbeit verschrieben und sich auch nicht durch seine mittlerweile vollständige Erblindung von seinem Weg abbringen lassen. Nachdem "als erstes sichtbares Ergebnis" (wie es hier auf Seite 5 heißt) vor zehn Jahren seine über 800 Seiten starke estnischsprachige Monografie "Estländer, Livländer und Kurländer an europäischen Universitäten 1561-1798"[1] erschienen ist, folgt nun deren Herzstück bzw. Materialbasis: ein biografisches Lexikon zu circa 6000 Personen aus dem baltischen Raum, die sich innerhalb von knapp zweieinhalb Jahrhunderten in Europa ihre akademischen Sporen verdient haben.
Es bedarf keiner prophetischen Begabung, um vorauszusagen, dass Tering ein Standardwerk vorgelegt hat, das künftigen Forschergenerationen Hilfestellung bei der Vervollkommnung der einen oder anderen Fußnote leisten wird. Ebenso wenig wird es an kritisch eingestellten Fachkollegen mangeln, die naserümpfend eben gerade auf den Fußnotencharakter solcher Bücher hinweisen und deren Autoren despektierlich als "Erbsenzähler" abqualifizieren. Ihnen sei mit einem Bonmot des estnischen Schriftstellers, Essayisten und Historikers Andrei Hvostov geantwortet: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Geschichte keine Wissenschaft ist. Ich kann gar nicht einmal sagen, was sie ist, als Wissenschaft kann man eher die historischen Hilfswissenschaften bezeichnen: Archivwesen, Heraldik usw. Geschichte aber ist Philosophie, vielleicht Literatur, vielleicht Kunst."[2] Anders ausgedrückt: Ohne die vermeintlichen Hilfswissenschaften und Erbsenzähler ist die - ebenso vermeintliche - "echte" Wissenschaft letztlich aufgeschmissen. Tering und sein Mitbearbeiter Jürgen Beyer (sowie zahlreiche weitere Helfer, Zulieferer und Unterstützer) haben eine Arbeit geleistet, von der alle profitieren, die aber die wenigsten zu leisten bereit sind. Dafür gebührt ihnen Dank und Anerkennung.
Der zeitliche Rahmen ist wohlbegründet und Kennern der Region geläufig, allerdings ist für Nichtkenner des Fachgebiets die in der Einleitung (20) gegebene Erklärung etwas zu knapp. Der Endpunkt mag noch plausibel erscheinen: 1798 verbot Zar Paul I. seinen Untertanen, an ausländischen Universitäten zu studieren, ein Verbot, das 1801 von seinem Nachfolger Alexander I. aufgehoben wurde - übrigens hätte hier (und nicht erst auf Seite 50) die Wiedereröffnung der Universität in Tartu (Dorpat) im Jahre 1802 als weiteres Argument für die Zäsur zu Beginn des 19. Jahrhundert angeführt werden können. Den Beginn jedoch, das Jahr 1561, lediglich mit dem "Zusammenbruch der altlivländischen Territorialherrschaft" (20) zu erklären, ist zwar korrekt, dürfte jedoch für Außenstehende wenig erhellend sein. Vielleicht hätte man hier erklärend hinzufügen können, dass diese Jahreszahl gemeinhin als Epochengrenze in der Region gilt, weil sie die Herrschaftsverhältnisse grundlegend und nachhaltig veränderte. Hinzu kommt, dass die im Titel genannte Personengruppe ("Studenten aus Estland, Livland und Kurland") nach 1561 wohl einen grundlegend anderen Rechtsstatus innerhalb des Heiligen Römischen Reichs (zu dem die Mehrheit der besuchten Universitäten zählte) hatte - ganz unabhängig von der Diskussion, ob der mittelalterliche livländische Ordensstaat nun ein Teil desselben war oder nicht. Ob Studenten vor 1561, die es zweifellos gab (allein schon solche Berühmtheiten wie Balthasar Russow, der ab 1558 in Stettin lernte), grundsätzlich einen anderen Status hatten, vermag der Rezensent nicht zu entscheiden, aber zumindest hätte das Jahr 1561 etwas ausführlicher begründet werden können. Vielleicht hat auch nur das mit dem gleichen Stichjahr operierende Deutschbaltische biographische Lexikon (DbBL - mittlerweile unter https://bbld.de/ auch online verfügbar), an dem sich Tering explizit (21) orientierte, Pate gestanden, das allerdings nur bis 1710 reicht und mit seinen circa 3600 Einträgen deutlich weniger Personen behandelt. Gleichwohl kann man Terings Lexikon als willkommenes Pendant zum DbBL sehen, und sei es nur durch das nahezu identische Format, für das der Böhlau-Verlag (wohl bewusst) gesorgt hat. Dementsprechend bleibt zu hoffen, dass auch dieses Werk in absehbarer Zeit digital zugänglich gemacht wird.
Die Einleitung weicht zwar kaum von der deutschen Zusammenfassung der genannten estnischen Monografie von 2008 ab (worauf der Autor auch hinweist, 22), ist aber dennoch lesenswert, weil sie nützliche und wissenswerte Informationen zum Studentenleben der damaligen Zeit vermittelt. Tering versucht hier auch eine grobe Interpretation seines immensen Zahlenmaterials, indem er Tendenzen und Schwerpunkte aufzeigt. Mit Sicherheit wird hierzu aber die künftige Forschung auf Grundlage eben dieses Buches noch zu weiteren Schlussfolgerungen kommen.
Hervorzuheben sind ferner die beiden Register im Anhang, die das alphabetische Hauptverzeichnis (101-773) chronologisch nach dem Immatrikulationsdatum (777-890) und topografisch nach den Studienorten (891-935) aufschlüsseln. So ergeben sich neue Übersichten, neue Suchmöglichkeiten und neue Fragestellungen. Abgeschlossen wird das Werk mit einer Liste der Bildungseinrichtungen und der "Außerbaltische[n] Wirkungsorte", der man - beispielsweise - entnehmen kann, dass die meisten Hochschulabsolventen, die nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sind, nach St. Petersburg gelangten (nämlich 69), aber nur einer nach Quedlinburg.
Wer glaubt, dass in einer Zeit rasant anwachsender Daten(an)sammlungen und stetiger Beschleunigung elektronischer Suchmethoden vermeintlich altertümliche Lexika oder biografische Handbücher überflüssig geworden sind, irrt. Gerade in Zeiten des Überangebots ist es wichtig, auf solide "Handarbeit" zurückgreifen zu können, wie das Beispiel des angezeigten Buches eindrucksvoll unter Beweis stellt. Zudem wird häufig übersehen, woher denn all die Informationen, die man so schnell im Netz finden kann, stammen: aus eben gerade solchen Handbüchern, nicht etwa aus eingescannten Archiven oder dergleichen.
Anmerkungen:
[1] Arvo Tering: Eesti-, liivi- ja kuramaalased Euroopa ülikoolides 1561-1798, Tartu 2008, deutsche Zusammenfassung (748-780).
[2] Andrei Hvostov / Mart Laar / Harri Tiido: Historical Myth in National Identity. An Exchange of Ideas, in: Estonia. Identity and Independence, ed. by Jean-Jacques Subrenat, Amsterdam / New York 2004, 35-45, hier 37.
Cornelius Hasselblatt