Sabrina Lausen: Hüter ihrer Nationen. Studentische Verbindungen in Deutschland und Polen im 19. und frühen 20. Jahrhundert (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen; Bd. 21), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 507 S., ISBN 978-3-412-51777-9, EUR 65,00
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Im gegenwärtigen Urteil über studentische Verbindungen überwiegt die Wahrnehmung als elitäre, höchst konservative und zugleich als gesellig-trinkfreudige Zirkel. Zugleich wird diese Art studentischer Geselligkeit häufig als "typisch deutsch" gewertet. Studentische Verbindungen stell(t)en, so auch die Prämisse der vorliegenden Studie, einen sozialen Herkunftsort zukünftiger männlicher Führungsschichten dar und bildeten vor 1918 das Ideal des Bürgers aus. Ist die (Sozial-)Geschichte deutscher studentischer Verbindungen bereits in der historischen Forschung hinreichend untersucht worden, so sind die polnischen Verbindungen bislang erst seit Kurzem ein Thema, nicht zuletzt, weil sie während der sozialistischen Zeit tabuisiert worden waren. Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, deutsche und polnische studentische Verbindungen, ihre (transnationalen) Vernetzungen und Transfer spezifischer Praktiken und Brauchtums sowie ihre Beziehungen untereinander zu analysieren und damit differentia specifica und Gemeinsamkeiten gleichermaßen herauszuarbeiten.
Ausgehend von transnationalen und transkulturellen Forschungsperspektiven zeichnet die vorliegende Paderborner Dissertation kenntnisreich den Transfer bzw. die Adaption deutschen studentischen Brauchtums durch polnische Verbindungen nach. Von Bedeutung hierbei ist, dass unter den Bedingungen der Nichtexistenz des polnischen Staates bis 1918 und der Russifizierungs- und Germanisierungspolitik Polen an zahlreichen nicht-polnischen Universitäten wie Dorpat und Riga, Czernowitz und Wien studierten. Hierdurch waren Kontakt- und Austauschmöglichkeiten von Studenten gegeben, welche Lausen als "moving actors" in einer "quasi multinationalen Verbindungsszene" (13) sieht. Dieser Prämisse folgend, arbeitet sie in fünf Hauptkapiteln die Gründe für den Brauchtumstransfer und für die Ablehnung bestimmter Rituale und Strukturen heraus.
Zunächst zeichnet sie die Gründung und Entwicklung verschiedener deutscher und polnischer Verbindungen vor dem Hintergrund der Formierung des deutschen Bildungsbürgertums auf der einen und auf der anderen Seite der polnischen Intelligenz im 19. Jahrhundert nach. Durch die Auflösung der Kaiserreiche und die Nationalstaatsgründungen sei die "essenzielle transnationale Verständigungsbrücke" (434) weggefallen und unter den neuen geostrategischen Bedingungen nicht mehr tragbar gewesen, sodass die Beziehungen der Verbindungen sich verschlechtert hätten, aber Parallelen durchaus erhalten geblieben seien. Gemeinsam seien ihre inter-generationelle Struktur, ihr gleichsam familiärer Charakter und damit ihr Selbstbild als unabhängige Sozialisierungs- und Erziehungsinstanz zu wirken, durch die nationale Bildungs- und Funktionseliten heranreifen sollten. Auch hätten sich Verbindungen beider Nationen als "Hüter ihrer Nation" verstanden, was nicht zuletzt durch das Wirken der Philister, der Alten Herren, befeuert worden sei. Der Transfer des deutschen Brauchtums und dessen Einflüsse auf die polnische akademische Kultur seien jedoch oberflächlicher und utilitaristischer Natur gewesen, der nicht zu einer Akkulturation geführt habe.
Daran anschließend erläutert die Verfasserin im zweiten Hauptkapitel das Selbstbild der wichtigsten deutschen und polnischen Verbindungen und verortet sie milieutheoretisch, um den elitären Charakter und die Zielsetzung, die nationale Führungsschicht heranzuziehen, herauszuarbeiten. Die studentischen Verbindungen seien zu wichtigen Trägern der auf die bürgerliche Nationalstaatlichkeit hinauslaufende gesellschaftlich-politische Transformation geworden, auch wenn die sozialen Wurzeln der deutschen Burschenschaften im Bürgertum und in den polnischen in der Inteligencja und Adel gelegen hätten. Die grundlegenden Narrative hätten sich wesentlich unterschieden: Die deutschen Verbindungen verklärten Martin Luther als Urvater der deutschen Sprache und teilweise als Vorkämpfer gegen den allmächtig gewordenen Katholizismus, während die polnischen Verbindungen das Bild von Polen als "antemurale christianitatis" und damit auch die Gleichsetzung von Polen und Katholizismus vertraten.
Geht es damit um die Konstruktion eines nationalen Selbstbildes, so thematisiert folgerichtig das dritte Hauptkapitel die studentische Xenophobie und damit vor allem den wachsenden Antisemitismus innerhalb der Verbindungen, aber auch die Ablehnung anderer ethnischer Minoritäten. Lausen folgert, dass sich eine politische Ideologie unter den korporierten Studenten gebildet hätte, die zu einem destruktiven Nationalismus im Sinne von Diskriminierung, Bekämpfung bzw. Zerstörung anderer Nationalitäten und Konfessionen geführt habe. Besonders deutlich sei dies im wachsenden Antisemitismus geworden, welcher der Konstruktion antijüdischer Ideologeme in beiden Ländern gefolgt sei. Für Polen interpretiert die Verfasserin dies mit der Zielsetzung, einen homogenen Nationalstaat schaffen zu wollen, sodass gerade das Leitbild als "Polak-Katholik" sehr integrativ habe wirken soll.
Das anschließende Hauptkapitel stellt das in den Männerbünden vorhandene weibliche ("Dame") und männliche Selbstbild ("Ritter") in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu den polnischen habe es in den deutschen Verbindungen intensive Debatten über das sich wandelnde Weiblichkeitsbild gegeben. Die Herausbildung von Männlichkeit durch Comment und Trinkzwang habe einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung des Selbstbildes und der Zielsetzung, eine "satisfaktionsfähige" soziale Elite, einen "Tugendadel", zu schaffen, geliefert. Lausen verdeutlicht, dass der Ehrbegriff insbesondere abhängig von der konfessionellen Bindung unterschiedlich interpretiert wurde, zumal katholische Verbindungen das Duell abgelehnt hätten.
Von der Charakterisierung des Ehrbegriffs ausgehend diskutiert die Verfasserin im letzten Hauptkapitel wesentliche Elemente bei der Entwicklung des Männlichkeitsbildes, das durchaus differenziert zu betrachtende Verhältnis der Verbindungen zu Mensur, Duell und Krieg. Lausen legt dar, dass das Duell von polnischer Seite als "deutsch" und "aufgezwungen" - wohl unter dem Einfluss des Katholizismus - im 20. Jahrhundert abgelehnt worden sei, während es in Deutschland keine Alternative hierzu bis weit ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts gegeben habe. Insgesamt würden gerade im Männlichkeitsbild differentia specifica deutlich, aber auch, dass polnische Verbindungen im Baltikum sich die Achtung der deutschen durch häufiges Duellieren erkämpft hätten, die Mensur aber abgelehnt hätten. Ein wichtiger Grund sei gewesen, dass die Polen wegen des Konzepts der Organischen Arbeit in der Bildung ihre Hauptaufgabe erkannt hätten, während sie sich machtpolitisch nicht profilieren konnten. Dagegen sei die Mensur für die deutschen Verbindungen wichtig gewesen, um sich als "wehrhaft" zu profilieren und sie als Erziehungsmittel für eine soziale Gruppe mit Führungsanspruch und Ehrgefühl einzusetzen.
Insgesamt führt diese empfehlenswerte Studie in zahlreiche Details studentischen Lebens, des diesbezüglichen Kultur- und Brauchtumstransfers und die jeweiligen Besonderheiten ein. Sie zeigt, dass dieser Transfer zu Praktiken und Haltungen führt, die für die spezifischen nationalen Zwecke adaptiert und umgedeutet wurden.
Heidi Hein-Kircher