Hubert Leschnik: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Polen von 1998 bis 2010 (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 42), Marburg: Herder-Institut 2018, IX + 530 S., ISBN 978-3-87969-438-9, EUR 95,00
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In seiner Einleitung setzt Hubert Leschnik sich zum Ziel, die "wichtigsten Facetten" der polnischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von 1889 bis 2010 zu "untersuchen" (13). Er verspricht zudem, die "Inhalte" der Erinnerungskultur sowie die "Art" der Geschichtspolitik in Polen zu erfassen (445). Diese Formulierungen offenbaren das größte Problem der Arbeit: Sie ist deskriptiv angelegt, hat keine klaren Forschungsfragen und daher auch keine stringente Argumentation. Das ist schade, denn inzwischen sind zahlreiche Bücher und Aufsätze über die polnischen Probleme mit Geschichte und Erinnerung erschienen, aber nur wenige, die einleuchtende Thesen und nachvollziehbare Erklärungen liefern würden.
Leschnik hat die Arbeit in zwei Teile, einen "erinnerungskulturellen" und einen "geschichtspolitischen", gegliedert. Im ersten Teil widmet er sich dem kollektiven Gedächtnis der Polen und dessen Berührungspunkten mit den kollektiven Gedächtnissen der Nachbarvölker, im zweiten Teil geht es um die geschichtspolitische Aktivität des polnischen Parlaments. Die Überschrift des "erinnerungskulturellen" Kapitels lautet "Erinnerungskultur und Diplomatie", doch der Begriff "Diplomatie" wird hier sehr breit gefasst. Leschnik konzentriert sich nicht auf die Aktivität des Außenministeriums oder der diplomatischen Vertretungen. Vielmehr interessiert ihn die Meinung der polnischen Bürgerinnen und Bürger, die er oft anhand von Umfragen präsentiert, zu historischen Ereignissen, die Polen mit anderen Nationen teilt. Dazu gehört beispielsweise die Beeinflussung der polnisch-russischen Beziehungen durch die Konflikte um die Ermordung der polnischen Elite in Katyn 1940 oder der polnisch-ukrainischen Beziehungen durch die Auseinandersetzungen um die Massaker in Wolhynien 1943/44. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist wenig überraschend. Am geringsten beeinflusse Geschichte die Beziehungen Polens zu Tschechien und der Slowakei; die Beziehungen zu Litauen seien nur mäßig von Geschichte geprägt. Das Verhältnis Polens zu Deutschland, Russland und der Ukraine sei hingegen sehr von historischen Themen dominiert (206). Dabei spricht Leschnik immer wieder von Erinnerungsorten und bezieht sich dabei, obwohl leider sehr kursorisch, auf die Bände der "Deutsch-polnischen Erinnerungsorte". [1] Das dort entwickelte Konzept der bilateralen Erinnerungsorte basiert wiederum auf Klaus Zernacks Konzept von Beziehungsgeschichte. Diese Zusammenhänge hätte Leschnik unbedingt nennen müssen.
Der Gegenstand der Untersuchung im zweiten, geschichtspolitischen Teil ist ein völlig anderer. Hier widmet sich Leschnik den Gesetzen, Beschlüssen, Resolutionen usw. des polnischen Parlaments, die bestimmten historischen Ereignissen gewidmet wurden. Der Zeitrahmen der Untersuchung wird in diesem Teil etwas breiter angelegt, von 1997 bis 2011, damit vollständige Wahlperioden erfasst werden können. Interessant ist dabei die Unterscheidung zwischen "weicher" und "harter" Geschichtspolitik - als Anlehnung an das politikwissenschaftliche Konzept der "soft power" und "hard power". Während Beschlüsse und ähnliche Dokumente als "weich" gelten, sind Gesetze Ausdrucksformen "harter" Geschichtspolitik, weil sie "unmittelbare und überprüfbare Folgen mit sich bringen", anstatt nur "Meinungen, Wünsche oder Ansichten des Parlaments" zu äußern (209). Leschnik benennt beinahe alle geschichtsorientierten Gesetze und Beschlüsse des polnischen Parlaments (Sejm und Senat) aus 14 Jahren. Darunter befinden sich auch Initiativen, die aus heutiger Perspektive überraschend erscheinen, beispielsweise der Entwurf eines Beschlusses bezüglich der Erinnerung an die Soldaten, die zwischen 1944 und 1956 gegen das kommunistische System kämpften, der bereits in der Wahlperiode 1997-2001 eingereicht, aber nicht verabschiedet wurde (245, 251). Wie es dazu kam, dass es bereits damals eine Initiative zur Ehrung der sog. "verstoßenen Soldaten" gab, und wie diese begraben wurde, erklärt Leschnik allerdings nicht. Dabei spielen die "verstoßenen Soldaten" eine zentrale Rolle in der aktuellen Geschichtspolitik. Die Geschichte dieses Beschlusses hätte daher zum Verständnis der gegenwärtigen Situation in Polen beitragen können. Leschnik beschränkt sich jedoch auf die Aufzählung und eine kurze statistische Analyse der Parlamentsaktivitäten. Aus seinen Berechnungen geht hervor, dass 2005, als die erste nationalkonservative PiS-Regierung ihre Arbeit aufnahm, tatsächlich ein Wendejahr war. Während der Anteil geschichtsorientierter Beschlüsse in dem konservativ (1997-2001) und liberal (2001-2005) dominierten Parlament bei etwa 20 Prozent lag, erhöhten die PiS-Abgeordneten diesen Anteil in der Wahlperiode 2005-2007 auf 40 Prozent. In den darauffolgenden vier Jahren verfolgten die Abgeordneten der liberalen Bürgerplattform eine ähnlich intensive Geschichtspolitik (427). Andere Kontinuitäten fallen in Leschniks Darstellung des Instituts für Nationales Gedenken auf. Seit seiner Gründung sicherte ihm jede Regierung, unabhängig davon, ob konservativ oder liberal besetzt, mehr Geld zu als die jeweiligen Vorgänger. Leider analysiert Leschnik die äußerst interessanten Fakten, die er benennt, nur sehr oberflächlich. Analog zum ersten bleibt auch im zweiten Teil relevante Forschungsliteratur unterwähnt, zum Beispiel Marcin Napiórkowskis Analysen der Parlamentsdebatten über die "kommemorativen Beschlüsse" (uchwały kommemoratywne) unter anderem in den Zeitschriften Więź und Res Publica Nowa.
Abschließend kann man sagen, dass die Monografie von Leschnik viele interessante Fakten zusammenträgt, die allerdings gründlicher und methodisch konsequenter hätten analysiert werden sollen. Der erste Teil liefert einen Überblick über die geschichtsorientierten Diskussionen zwischen Polen und seinen Nachbarn. Im zweiten Teil finden die Leserinnen und Leser eine strukturierte Zusammenfassung der geschichtspolitischen Aktivitäten des polnischen Parlaments zwischen 1997 und 2011. Das Buch erfüllt daher seine Funktion als eine Art Nachschlagewerk, besonders für Leserinnen und Leser, die des Polnischen nicht mächtig sind und die meist polnischsprachige Forschungsliteratur sowie die ebenfalls polnischsprachigen Datenbanken des Sejm nicht selbst nutzen können. Spezialistinnen und Spezialisten liefert die Monografie allerdings wenig neue Erkenntnisse. Der deskriptive Ansatz, die sperrige Gliederung und viele nicht zu Ende geführten Gedanken machen die Lektüre leider nicht einfacher.
Anmerkung:
[1] Hans Henning Hahn / Robert Traba (Hgg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte, 5 Bde., Paderborn 2012-2015.
Magdalena Saryusz-Wolska