Hubert Zimmermann: Militärische Missionen. Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart, Hamburg: Hamburger Edition 2023, 488 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-86854-381-0, EUR 40,00
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Wodurch unterscheiden sich militärische Auslandseinsätze von Kriegen? Sie sind mit dem Marburger Politikwissenschaftler Hubert Zimmermann Interventionen, die "unterhalb der Schwelle klassischer Kriege stattfinden und in denen es darum geht, in einer auf begrenzte Zeit angelegten, fast immer multilateralen Aktion die Herrschaftsstrukturen in einem anderen Staat mit militärischen Mitteln zu verändern" (15). Dies geschehe gegen den Willen herrschender Kreise der betroffenen Staaten, zumeist multilateral und betreffe im erweiterten Sinne die "Sicherheitsinteressen" solcher Koalitionen (15). Wie Zimmermann einräumt, ist das unscharf und lässt sich wohl nur als Ausbuchstabierung der seit 2005 von den Vereinten Nationen beschlossenen Responsibility to Protect oder Schutzverantwortung verstehen.
Der Begriff militärische Mission ist in der Politikwissenschaft etabliert, aber es versteht sich, dass es dabei um eine Erscheinungsform von Interventionen geht, deren Motive oder Begründungen sich im Laufe der Aktion ändern können und die zwischen den Polen Interessen- und Machtpolitik einerseits, humanitärer Mission andererseits breit gestaffelt sind. Sie werden von militärischer Unterstützung begleitet und können aber dadurch auch "friedlich" verlaufen. Vor allem der Zweite Weltkrieg ließe sich zumindest ab 1941 als Muster militärischer Intervention gegen Aggressoren verstehen; das fällt jedoch hier aus dem Blick. Auch die meisten Angriffskriege zur nackten territorialen Erweiterung von Staaten fanden freundlichere Begründungen, Legitimationen, die etwas ganz Anderes zu suggerieren suchten als das, was die jeweiligen Herrscher im Schilde führten. "Erfindung" von Argumentationen ist ein Lieblingswort dieses Autors, reflektiert wird das jedoch nicht.
Zimmermann bettet seine Beobachtungen in die politische Philosophie zwischen Michael Walzer, dem Autor eines klassischen Werks zum "gerechten Krieg" und Judith Sklar, Liberalismuskritikerin und eben Kritikerin auch von Walzer, ein. Er sieht einen "schwer auflösbaren Konflikt" zwischen Menschenrechten und der Souveränität von Staaten und wundert sich ein wenig, dass die Menschheit so wenig aus der Geschichte gelernt habe. Es geht also ums Ganze der Geschichte, vor der unmittelbaren Gegenwart auch um einen europazentrischen Blick, muss man hinzufügen. Die dreizehn Kapitel lassen sich in fünf große, unterschiedlich elaborierte Blöcke zusammenfassen. Es geht erstens um einen Adlerblick tendenziell von der Antike, vertieft aber vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, zweitens um die internationalen Entwicklungen seit 1945 zumal im UNO-System. Es folgen ungleich angelegte Kapitel über die USA, die Bundesrepublik und Frankreich.
Den ersten Teil bildet ein großflächiger Essay, der internationale Entwicklungen, große Denker von Francisco de Vitoria, Emer de Vattel über Christian Wolff bis John Stuart Mill und heutige Deutungen pointiert verbindet. Religiöse Motivation stand am Anfang, so dass die Kreuzritter in die Nähe "terroristischer Gotteskrieger" (29) geraten, der (religiös begründete) Schutz von Untertanen im Dreißigjährigen Krieg "ganz Europa in apokalyptische Zustände" (36) stürzte. Im 19. Jahrhundert traten dann Mächtegleichgewicht und kollektive Sicherheit in den Vordergrund, aber gerade in Großbritannien wandte man sich gegen ein zu weit gehendes Interventionsrecht, so dass sich dieses "Konzert" langsam aufgelöst habe. Parallel dazu kam mit der Reaktion auf die Massaker von Chios 1822 der Gedanke und das Handeln nach humanitären Motiven auf, wie für das spätere Jahrhundert u.a. an weiteren griechischen Beispielen gezeigt wird. Im Zeitalter der Weltkriege, so heißt es im Schnellgang ambivalent, habe es Intervention und Nichtintervention gegeben.
Für das System der Vereinten Nationen bis 1989 liefert Zimmermann einige Begebenheiten, die den antiinterventionistischen Charakter der Zeit bestimmten, benennt mit u.a. mit Biafra auch Marksteine der internationalen Interventionsdebatten. Wieweit die Konfrontation des Ost-West-Konflikts dafür verantwortlich war, ist nicht das Thema. Für die folgenden Jahrzehnte bündelt Zimmermann von den Debatten der Afrikanischen Union über Diskussionen im System der Vereinten Nationen bis zu Einzelfällen wie im ehemaligen Jugoslawien etliche Beispiele. Bis zur Gegenwart meint er eine Tendenz zum Antiinterventionismus ausmachen zu können, behutsam vorgetragen, doch angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen eine mutige Diagnose.
In den drei Länderstudien steht jeweils ein prägnantes Beispiel am Anfang. Bei den USA ist das die Versenkung des Schlachtschiffs Maine und der daraus resultierende spanisch-amerikanische Krieg von 1898. Drei Jahre später sieht er bei der Washingtoner Regierung im Fall der Philippinen eine Mischung von Vorkämpferin gegen humanitäre Katastrophen zugleich eine robuste und skrupellose Interessenpolitik. Dann jedoch geht er auf die Anfänge der nordamerikanischen Großmacht im 18. Jahrhundert ein, etwa mit George Washingtons Abschiedsrede (gegen entangling alliances) und zur (potenziell interventionistischen) Monroe-Doktrin von 1823 zurück. Seitenlange Tabellen für tatsächliche Interventionen der USA von 1898 bis zur Gegenwart unterstreichen die Vielfalt der Motivationen. Genüsslich wird Henry Kissingers (Historiker-)Urteil über Wilson zitiert, der Washingtons Warnung in den Wind geschlagen habe und den Ersten Weltkrieg in einen Kreuzzug für amerikanische Werte verkehrt habe, anstatt sich auf wohl erwogene Interessen der Großmacht zu beziehen. Vor dem Hintergrund derartig gegensätzlicher Motivbündel findet sowohl der Interventionismus George W. Bushs wie der nationale Egoismus Donald Trumps seine Begründung in widersprüchlichen Traditionssträngen US-amerikanischen Aufstiegs. Zimmermann spricht hier von einem Kreislauf der Debatte, wenn er die unmittelbare Vergangenheit mit Obama, Trump und Biden behandelt.
Für den bundesdeutschen Fall dient der Farbbeutelanschlag 1999 auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen auf Außenminister Joschka Fischer als Anlass, um Krieg und Auslandseinsätze zu summieren. Hier war es der Zwiespalt zwischen dem Beharren, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen, und der moralischen Verpflichtung zur Hilfeleistung, verbunden mit dem Stichwort "nie wieder Auschwitz - nie wieder Krieg". Jugoslawien, Somalia, Afghanistan oder Mali dienen als herausgehobene Beispiele (Tabellen listen auch hier annährend vollständig das Engagement auf). Einschlägige Bundestagsdebatten bilden einen Kern der Darstellung. Eine der bilanzierenden Beobachtungen: die Suche nach objektiven Kriterien für Intervention scheiterte bis in die Gegenwart; diese hingen vielmehr davon ab, wie sich die Bundesrepublik und andere Interventionsmächte in der jeweiligen Situation selbst verstanden. Schließlich: Frankreich. Die Ausführungen dazu werden abgeholt am Beispiel des Menschenrechtlers, Bernard Kouchner, der 2007 Außenminister wurde und eine spezifisch französische Verantwortung, eine mission civilatrice durchzusetzen suchte - nun auch mit militärischen Mitteln. Für Zimmermann zeigte sich für Frankreich in den letzten Jahrzehnten, aber traditionell lange vorgeprägt, ein Sendungsbewusstsein, das je unterschiedlich von Großmachtambitionen geprägt war.
Zimmermanns Buch brennt insgesamt kenntnisreich und sprachlich bisweilen angenehm salopp ein Feuerwerk an Beobachtungen ab, scheut nicht den großen Sprung über lange Zeiten und verschiedene Weltgegenden. Seine Bilanz fällt vorsichtig skeptisch aus gegenüber den Leistungen von Interventionen, sei es einzelner Länder, sei es der Weltstaatengemeinschaft: Am besten hätten Interventionen funktioniert, wenn sie "mit handfesten machtpolitischen Interessen verknüpft werden" (455). Es gebe je ein Spannungsfeld von humanitären Pflichten, nationaler Selbstbestimmung und der "Realität eines internationalen Systems, in dem es keine legitime und effektive Autorität zum grundlegenden Schutz gibt" (456); Staaten müssten ihre nationale Sicherheit selbst verantworten. Für letzteren, der realistischen Schule verpflichteten Ansatz spricht auch nach Urteil des Rezensenten viel. Der Weg zu einem vom Völkerrecht geprägten Werte nicht nur behauptenden, sondern einvernehmlich in der Staatengemeinschaft durchgesetzten Schutz vor Unrecht und Willkür ist entgegen teleologischen Hoffnungen bisher noch nicht Mainstream geworden. Gerade Staaten wie Russland/Sowjetunion oder China kommen mit ihren je eigenen Argumentationen zur Legitimierung von Intervention im Buch kaum vor; es geht eher um die "richtigen" Ansätze. Dem Völkerrecht und den vereinten Nationen erkennt Zimmermann nur eine begrenzte Wirkung zu.
Letztlich bietet das Buch einen Beitrag zur Entwicklung des Staatensystems und zur internationalen Geschichte insgesamt. Kriegsbegründungen von den Kirchenvätern bis in die Gegenwart hinein wären der ein wenig größere Rahmen gewesen. Merkwürdigerweise zieht Zimmermann Langewiesches einschlägige Arbeiten nicht heran. Zwischen Legitimierungen als öffentliche Rahmungen und zugrundliegenden Interessen wäre wohl deutlicher zu unterscheiden gewesen. Ebenso hätten "Zivilisierungsmissionen", wie Osterhammel und andere sie herausgearbeitet haben, nicht nur im französischen Fall fruchtbar gemacht werden können. Auch wenn das nur am Rande, dann aber weiterführend erwähnt wird: letztlich geht es um den Wandel und die laufenden Aushandlungsprozesse von Staats- und Gesellschaftsverständnissen der Einzelakteure im Wandel der Zeit. Wie sich das in einer globalen Ordnung, in einem Weltsystem änderte, ist das eigentliche Thema, das Zimmermann zupackend, aber doch eher fragend reflektiert. Er liefert somit aus einem beschränkten Blickwinkel eine Antwort, die vielgestaltig und vage ist, aber dennoch weitgehend überzeugt.
Jost Dülffer